Die fetten Jahre brechen an

Als die Berlinale-Bären verliehen wurden, stand Julia Jentsch schon wieder in München auf der Bühne. Dort spielt sie die Frauen, deren Stärke die Männer sich nicht leisten können. Ein Porträt

VON SABINE LEUCHT

Dieser Schrei! Man muss ein Porträt von Julia Jentsch einfach mit ihrer Art zu schreien beginnen. Von ganz weit unten rollt er heran, der Schrei. Als ob er zu gleichen Teilen ihr selbst und etwas Unergründlichem angehörte. Er ist nicht auf Wirkung aus, mit ihm ist der Mensch ganz allein. Er kommt zuerst und bleibt bis zuletzt übrig: eine Klammer um die Existenz – und um das Herz dessen, der ihn hört.

In den dreieinhalb Jahren, die Julia Jentsch bereits an den Münchner Kammerspielen engagiert ist, hat sie so manches Mal schreien müssen, spielt die zarte Berlinerin doch fast ausnahmslos tragische Figuren: aufbegehrende, wilde, starke Frauen, deren Weiterleben sich eine oft tumbdreiste Männergesellschaft zwecks Selbsterhaltung schlicht nicht leisten kann. Sophokles’ Antigone zum Beispiel, die das Recht des Bluts und der Liebe über das des Staates stellt: bei Julia Jentsch trotzig aufstampfende Amazone und Wallehaar-Mädchen zugleich. Sie wird lebendig begraben für ihre Ideale, bringt aber in der Inszenierung von Lars-Ole Walburg auch die Maßstäbe ihrer Gegner gehörig aus dem Lot.

Auch als die schöne Brunhild in Andreas Kriegenburgs „Nibelungen“-Inszenierung, gerade zum Theatertreffen eingeladen, muss König Gunther sie gut verschnüren, um sie überhaupt tragen zu können. Julia Jentsch spielt die stärkste Frau der Welt nach dem Muster von Björk: Zart-raue Isländerin, windzerzaust mit Bodenhaftung. Haut den Gatten im Tanz gegen die Wände und reicht ihm dann wieder brav die Hand. Bis Siegfried unter seiner Tarnkappe die Reckin entjungfert und schwach macht für den Ehemann. Eine Domestizierung, schlimmer als tausend Tode: ein Lebendigbegrabensein im Lumpenpuppenkostüm.

Es bedarf oft gewaltiger Anstrengungen, um die von Julia Jentsch gespielten Figuren wieder loszuwerden. In den Stücken und Filmen beschäftigt sie nachhaltig ihre Partner – aber auch nach dem Sehen weichen dem Zuschauer ihre Rollen nicht aus dem Gedächtnis. Bei ihrer Sophie Scholl, für deren Verkörperung Julia Jentsch gerade den Silbernen Berlinale-Bären bekommen hat, braucht es viele Tage Schlaf, bis das ernste Gesicht und sein inneres Leuchten ihre Nachbrennkraft verlieren. Marc Rothemunds Film „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ konzentriert sich auf das Gesicht von Julia Jentsch, das sie ganz klein zusammenkneift in Gedanken an die kranke Mutter, die nun ihre Kinder überlebt. Das ganz weich wird in der Intimität der Zelle und stets fest bleibt im Verhör: Die Mundwinkel probieren schon mal ein strategisches Lächeln, der Blick lässt den Gegner nicht los, nur Kehlkopf- und Augenbewegungen protokollieren ihre Gefühle.

Julia Jentsch, die Juristentochter, aufgewachsen in den zahmen Achtzigerjahren im unspektakulären Berlin-Charlottenburg, Schauspielstudium an der Hochschule Ernst Busch, hat eine erstaunliche Gabe, sich in Menschen einzufinden, die so viel größer sind als sie. Wenn sie dann über sie spricht, wirkt sie beinahe selbst verwundert. Ihr ist die Zivilcourage der gerade 21 Jahre alten Weiße-Rose-Aktivistin Sophie Scholl „fast unheimlich“, die Entschlossenheit, mit der die lebenslustige Studentin den Tod als letzte Freiheit wählte. Als Sophie erfährt, dass sie noch am selben Tage hingerichtet werden soll, ist der Augenblick gekommen, in dem Julia Jentsch wieder schreit: Noch einmal spüren, wie das Atmen sich anfühlt und der eigene Körper, dann bricht die tiefste Verzweiflung los.

Seit „Sophie Scholl“ auf der Berlinale uraufgeführt wurde, seit ihr Gesicht überall in Berlin aushing, seitdem gilt Julia Jentsch überall als ein Star. Vier Jahre ist es her, dass sie ihren ersten Film gedreht hat, kurz danach spielte sie an den Kammerspielen in Enda Walshs „Bedbound“ ein gelähmtes Mädchen: versabbert, mit zuckender Spastik und einer ungeheuren Leidenskraft. Die Zeitschrift Theater heute machte sie dafür zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres. Dann kam Cannes 2004 und Hans Weingartners „Die fetten Jahre sind vorbei“. Julia Jentsch wurde zur Premierenfeier eingeflogen und musste dann wieder nach München: Theaterproben standen an. Den Bayerischen Filmpreis bekam sie trotzdem für ihre Jule, die mit zwei Freunden in Villen einbricht und den Reichen die Möbel verrückt. Sie wurde der Liebling einer Generation, die sich an ihre rebellische Jugend erinnert sah.

Seither war sie „die Frau, von der man sprechen wird“ (BR), und Interview folgte auf Interview. „Ganz komisch und fremd“ habe sich dieser plötzliche Hype um ihre Person angefühlt, findet Julia Jentsch, die nun innerhalb von vier Tagen eine Theaterpremiere („Die zehn Gebote“, Regie: Johan Simons), den Silbernen Bären und ihren 27. Geburtstag hinter sich gebracht hat. Nun ist sie heiser, ungeschminkt wie immer und hofft, dass sie die letzten Wochen irgendwann sortiert bekommt. Und manchmal rührt sich auch die Angst, dass das Daumen-hoch und Daumen-runter der Medien nur ein Spiel sein könnte. „Man selber sieht ja immer auch, womit man nicht so zufrieden ist, was man sich nicht glaubt.“

Und wie sehen sie die Kollegen? Am Abend der Bären-Verleihung, als Julia Jentsch mal wieder in München auf der Bühne stand, statt in Berlin zu feiern, drückte man ihr einen Riesenstrauß Rosen in die Arme – und einen selbst gebastelten Bären von der Requisite. „Das war süß“, sagt sie. Und Thomas Thieme, der große, schwere, weiße Kammerspiel-Othello, den Julia Jentschs Desdemona auf wunderbar wilde, gierige und doch fast feenleichte Weise liebt und bespringt, schrieb über seine Lieblingsschauspielerin: „Als wir ‚Othello‘ probierten, habe ich ihr oft nur zugeguckt … So unverstellt zeigt niemand sich selbst, so wird niemand rot, so kann keine lächeln.“

Julia Jentsch – und es gibt Leute, die sich deshalb Sorgen um sie machen – schützt sich nicht. Sie stellt sich im Gespräch allen Fragen wie zum ersten Mal, versichert glaubhaft, es sei Zufall, dass sie noch nie was Lustiges gespielt hat („Man weiß ja auch nicht, ob man das dann kann“) und kniet sich tief in jede ihrer Rollen hinein. Für „Schneeland“ (Regie: Hans W. Geißendörfer), einen Film, in dem ihre Figur auf einem lappländischen Einödhof von ihrem Vater versklavt wird, hat sie Melken gelernt; mit Alexander Held, dem Darsteller des Verhörspezialisten Robert Mohr im Sophie-Scholl-Film, hat sie privat noch weiter geprobt – trotz zwölfstündiger Dreharbeiten und Theatervorstellungen am Abend. Die Kraft dieser kleinen Person ist unermesslich. Man spürt ein wenig von ihr in diesem plötzlich hervorbrechenden kehligen Lachen, das so überraschend ist für jemanden von ihrer Statur. Ansonsten wirkt sie unscheinbar im allerbesten Wortsinn: Sie hat es nicht nötig, zu scheinen. Was sie ist, genügt ja vollauf.