: Liebe, Tod und Tanz
Mehr als lustiger Trash für Minderheiten: ein Arte-Themenabend über Bollywood, das Kino der großen Gefühle – und der Zukunft (ab 22.25 Uhr)
VON SUSANNE MESSMER
Ein Mann reißt exaltiert die Arme nach oben. Weiter hinten tun es ihm dreißig weitere Personen nach. Dass sie sich dabei auf einem fahrenden Zug befinden – das scheint sie ebenso wenig zu stören, wie es den Zuschauer interessieren sollte: Wohin es geht und worin der Anlass für so viel Ausgelassenheit besteht, spielt keine Rolle. Wir befinden uns in einer langatmigen und tieftraurigen Liebesgeschichte, und Geschichten wie diese bedürfen der Auflockerung: Das zumindest ist die Logik kommerzieller, hindusprachiger Filme, wie sie in Bombay produziert werden – und zwar zahlreicher als in Hollywood. Wir sind in Bollywood, wo kein Film ohne Tanzeinlagen auskommt, wo sich fast jeder Film großer Beliebtheit erfreut.
Und das nicht nur in Indien. Auch im Westen ist Bollywood inzwischen Kult geworden, spielt Millionen ein und wird wohl die neueste Inspirationsquelle fürs westliche Kino sein – Grund genug also für Arte, Bollywood einen mehrtägigen Themenschwerpunkt zu widmen. Dass Bollywood mehr werden könnte als lustiger Trash für Minderheiten, dass beweist auch die Dokumentation „Bollywood remixed“, die Arte zum Abschluss zeigt. In einem furchtlosen Galopp von Bombay nach London, Wien, San Francisco, zurück nach Indien und weiter nach Los Angeles und Norditalien erfährt man allerlei: Interessantes über völlig unerklärliche Tanzeinlagen in den Tiroler Bergen, sogar über Alternativen zu Bollywood, die kaum im Westen bekannt sind: das indische Arthouse-Kino etwa oder auch die vitale Konkurrenz in Südindien. Vor allem wird eines glasklar: Es ist die expressive Wucht des indischen Kinos, der im Westen fasziniert – die Ausdruckskraft, die einem besonders dann heftig entgegenschlägt, wenn es gerade ganz egal ist, was ausgedrückt werden soll.
Bollywood ist nicht nur ein prima Schutz vor der Wirklichkeit, es ist auch der einzige cineastische Rückzugsort der Welt, in dem man vollkommen mit ödipalen Konflikten und anderen verzwackten Innerlichkeiten verschont bleibt. Daraus folgern fast alle der Befragten im Dokumentarfilm: Bollywood wird das neue Hongkong. Auf der Suche nach dem nächsten Jungbrunnen hat Hollywood schließlich schon vor Jahren entdeckt, dass in Asien viel zu holen ist. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis Tom Cruise statt kickboxend durch die Luft fliegend mit schwingenden Hüften um seine Filmpartnerinnen werben wird. Wir werden begeistert sein.
Dass man sich dessen sicher sein kann, das lässt sich gleich im Anschluss an den Dokumentarfilm erproben. Dann zeigt Arte mit „Hochzeit auf Indisch“, dem Debütfilm von Karan Johar („In guten wie in schlechten Zeiten“), den letzten von insgesamt drei der erfolgreichsten Bollywood-Schinken aller Zeiten – eine mutige Wahl, denn in diesem Genre gibt es durchaus auch Verwestlichteres, Moderateres und Anspruchsvolleres. Neben dem anbetungswürdigen Hauptdarsteller Sharukh Khan, der circa zwanzig Filme im Jahr dreht und in jedem dieser Filme zwanzigmal in Tränen ausbricht, wird alles geboten, was Bollywood so mitreißend macht: Liebe, Trauer, Tod und Tanz.
Wer in den ersten zwanzig Minuten peinlich berührt sein sollte, dem sei geraten: einfach Tee kochen, nebenher den Teppich saugen und weitergucken. Dieses Rezeptionsverhalten entspricht sowieso mehr dem indischen. Dort wird in den Kinos nicht konzentriert geschwiegen, sondern gepicknickt und geklatscht, wenn die Guten siegen.