: Die Söhne der Schweigerin
AUS FRANKFURT SYLVIA MEISE
Bui Thi Mai schweigt. Eine Strategie, die ihr und den drei Söhnen zwar nicht weiterhilft, die aber bisher verlässlich die Abschiebung von Frankfurt am Main nach Vietnam verhindert. Die Behörden drohen, die Familie abzuschieben, da aber die Pässe fehlen, geht das nicht. Damit Papiere ausgestellt werden können, muss ein vietnamesischer Beamter die allein Erziehende „identifizieren“, und das hat seit zwölf Jahren wohl keiner geschafft.
Die Behörden wissen zwar, wie sie heißt und wo sie wohnt, doch das vietnamesische Prozedere verlangt, dass sie es auch sagt. Aber die 42 Jahre alte Frau schweigt, denn sonst hätte sie keine Chance. Kaum wären die Pässe da, da säße sie schon mit ihren Kindern im Flugzeug Richtung Vietnam.
Sie hat drei Söhne, sie sind 5, 11 und 17 Jahre alt. Hung Nam ist ihr Ältester. Er schildert die Geschichte der Familie, denn Reden ist nun mal nicht ihre Sache und auf Deutsch schon gar nicht. Die Mutter schlafe schlecht, sagt er: „Sie fragt sich immer, was wohl aus uns Kleinen werden soll.“ Dabei guckt der große Kerl seine Brüder an, allen hat das letzte halbe Jahr die Laune verdorben. Zukunft – was ist das?
Dabei hatten sie schon mal eine Aufenthaltserlaubnis und könnten sie immer noch haben, wenn der Vater Dang Hung Anh nicht illegal Landsleute über die französisch-deutsche Grenze geschleust hätte. Damit war sein Aufenthaltsrecht verwirkt – und das der Familie gleich mit. Um der Abschiebung zu entgehen – das Ausländeramt hatte seinen Pass bereits kassiert –, tauchte er vor vier Jahren unter. Wo er ist? „Ich weiß nicht“, sagt Hung Nam. „Er hat es bestimmt für uns getan“, sagt er und knetet seine Finger, bis sie knacken. Dann macht er sich doch noch Luft. „Ich verstehe das nicht: Wir werden für etwas bestraft, was wir nicht getan haben.“
Er und seine Brüder sind hier aufgewachsen, er will dieses Jahr die mittlere Reife machen. Plötzlich stockt er, stottert fast. „Aber, wer weiß, ob ich dann noch da bin, vielleicht sind wir ja morgen schon weg oder heute Abend noch.“
Mit einem der letzten Gastarbeiteraufrufe kam der Vater 1987 in die DDR. Eine Wahl habe er nicht gehabt, übersetzt Hung Nam den weichen Singsang der Mutter: „Die Anwerber kamen direkt in die Fabrik und sagten: Du, du und du, ihr kommt mit.“ Er kam nach Eisenach, arbeitete in einer Textilfabrik, lebte in einem Männerwohnheim. Familienzuzug war für die Gastarbeiter der DDR so wenig vorgesehen wie für die der Bundesrepublik. Und doch lockte die Hoffnung auf ein besseres Leben, die Zeiten waren schlecht. 1992 kam die Familie nach, illegal über Tschechien.
Bui Thi Mai streicht ihre schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Welche Erinnerungen mag die Frau haben? Sie wurde während des Krieges geboren, wie die meisten Vietnamesen lebte sie auf dem Land. Mangel habe es gegeben und Armut – der Sohn stockt, sie blickt zu Boden. Wieder drückt er die Finger gegeneinander, bis es knackt, und blinzelt durch die Brillengläser in die Sonne. Zu viert teilen sie sich zwei Zimmer. Im Wohnschlafzimmer der Mutter macht der mittlere Sohn seine Schulaufgaben. Sie leben von Sozialhilfe, da die Mutter nicht arbeiten darf.
Vietnam hat kein Interesse an den Vietnamesen in Deutschland, Vietnam zählt zu den ärmsten Ländern der Erde, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Zwar kann Bui Thi Mai wunderbar kochen – Hung Nam leckt sich vielsagend die Lippen –, doch die Rückkehrerin käme mit leeren Händen: für Asiaten der totale Gesichtsverlust. Der elfjährige Bao und sein großer Bruder können weder Vietnamesisch lesen noch schreiben, die Kultur ist ihnen fremd. „Meine Heimat heißt Deutschland“, sagt Hung Nam. In der Familienakte, die der Rechtsanwalt führt, könnte er lesen, dass dies „asylrechtlich nicht relevant“ ist. Zudem hat sich Vietnam gegen Entwicklungshilfe aus Deutschland zur Rücknahme der Flüchtlinge verpflichten lassen. Nur kooperieren die Behörden nicht immer gut. Deswegen attestieren gut meinende deutsche Beamte der schmächtigen Frau, sie sei überfordert. Andere urteilen, sie verweigere die Mitarbeit, und wollen deswegen von einer humanitären Lösung, die der Rechtsanwalt anstrebt, nichts wissen. Erst der Pass, dann könne man reden. Reden?
Bui Thi Mai glaubt nicht daran. Anderthalb Meter über ihrem Bett ist ein Regalbrett angebracht, der Hausaltar. Hier betet sie zu den Ahnen um Hilfe. Abgebrannte Räucherstäbchen zeugen von der Zwiesprache. Die Buddhistin hofft, dass der Albtraum irgendwann endet, aber sie hat Angst, „immer nur Angst“, wiederholt Hung Nam dreimal.
Langstielige rote Rosen schmücken heute den Wohnzimmertisch, daneben dampft Kamillentee für den Besuch. Sie hockt gegenüber auf ihrer Matratze. Hung Nam bedeutet „Mutiger Süden“ – er lächelt sein sympathisch offenes Lächeln, als wolle er sagen, dafür kann ich nichts. Seit der Grundschulzeit hat er drei deutsche Freunde, mit denen er sich bis heute regelmäßig zum Computerspiel oder Fußball trifft. „Die haben gesagt, sie gehen für uns ins Fernsehen, wenn’s sein muss.“ Außerdem haben sie ihm geraten, die Zeit zu genießen, solange er noch hier ist. War wohl nett gemeint, aber es tat weh. Und dann erzählt der Junge unter dem Knacken seiner Finger von der letzten Anhörung. Schriftlich wurde die Familie für sieben Uhr morgens aufs Amt bestellt. Die ungewöhnliche Uhrzeit versetzte ihn in Panik. Die Mutter eines Freundes benachrichtigte die Ordensschwester Gudula. Sie ist der Sozialdienst in dem Hochhausviertel und sozialen Brennpunkt am Frankfurter Stadtrand. Ihr erster Impuls: „Alle ins Kloster bringen.“ Doch der Rechtsanwalt erklärte der streitbaren 70-Jährigen, die Familie dürfe sich keinesfalls verstecken, nur sagen müsse sie nichts. Auch eine Begleitung sei rechtens, also ging Bui Thi Mai diesmal nicht allein.
Sie hat keine Erinnerung mehr an diesen Tag, und Hung Nam war nicht dabei, deshalb erzählt die Ordensfrau von der Aktion in der Mühlheimer Kaserne der Bereitschaftspolizei: Gefängnisbusse aus Potsdam, Gera und Berlin seien dort hineingerollt, „große Busse voller Männer aus der Abschiebehaft“. „Ein echtes Einschüchterungsmanöver mit Leibesvisitation und allem Drum und Dran. Unmenschlich, wie das geschieht.“ Der Beamte hat notiert, Schwester Gudula habe das Gespräch an sich gerissen, eine erneute Vorführung solle ohne Begleitung erfolgen. Danach gab es auf dem Amt die Duldung nicht mehr für sechs, sondern nur noch für drei Monate. „Warum nicht länger?“, begehrte die Schwester zu wissen. „Weil ich das so entscheide“, blaffte der Beamte sie an.
„Wir sind keine inhumane Behörde“, wischt Heiko Kleinsteuber, stellvertretender Leiter der Frankfurter Ausländerbehörde, den Eindruck beiseite. Er sitzt in einem niedrigen Büro mit zerknickten Sichtschutzlamellen. Berge von Akten auf dem Tisch. „Meine Mitarbeiter sind genauso freundlich wie ich“, sagt der schmale Graukopf und angelt ein Zigarillo aus einer hellblauen Schachtel. Vier friedliche, gut integrierte, nicht durch eigenes Verschulden in die Bredouille geratene Menschen – wie will er das den Freunden von Hung Nam, jungen Frankfurter Bürgern, erklären? Er lässt das gold glänzende Feuerzeug schnappen und gibt zu, „das kann man nicht erklären“. Dass das Ausländergesetz ein Repressionsgesetz ist, dem würde er nicht widersprechen. Trotzdem sei es für ein „friktionsfreies“ Zusammenleben unbedingt anzuwenden, auch wenn sich die Familie „in einer beklagenswerten Situation“ befinde. Das schrieb er im Namen der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth an Schwester Gudula. Gesetz ist Gesetz. Achselzuckend bedauert er, „das Ausländergesetz ist nicht für die Menschen da“, es regele nur den Umgang mit ihnen durch die Behörde.
Die Ordensfrau hofft auf den Härtefallausschuss des Hessischen Landtags, der gerade gegründet wird. Der soll nämlich nicht nur Ausländern, denen bei Abschiebung ins Heimatland die Todesstrafe droht, sondern auch gut Integrierten helfen. Heiko Kleinsteuber sagt: „Wir brauchen die Härtefallkommission, weil wir ein unmenschliches Gesetz haben.“ Damit man „nützliche Ausländer“, die in Deutschland bleiben sollen, außerhalb des Rechts stellen könne.
„Nützlich“ gilt offenbar nicht für Bui Thi Mai, sie soll raus. Dass die Energieverschwendung von Behörden und Familie immens ist, dass es in zwölf Jahren nicht gelungen ist, Pässe auszustellen, ficht den stellvertretenden Amtsleiter nicht an.
Der Schwebezustand hat die Familie mürbe gemacht. Die zwei Älteren sind in der Schule schon abgesackt, und beiden klemmen mittlerweile die Worte.