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Archiv-Artikel

20 Minuten Ruhm am Ende der Welt

MUSIKGEMEINSCHAFT Die isländische Stadt Isafjördur richtet alljährlich ein Popfestival aus, das nach dem Egalitätsprinzip organisiert ist

Wer bei der jungen Band Mammút nah vor der Bühne steht, hat das Gefühl, umgeblasen zu werden, so druckvoll kommen die Gitarren daher

VON BENJAMIN WEBER

Und plötzlich hüpft die ganze Halle. FM Belfast läuten zum Finale. Es ist der letzte Auftritt am ersten Abend des „Aldrei fór ég sudur“-Festivals in Island. Gerade wurde die Bühne gestürmt von den anderen Bands, die bisher gespielt haben. Dort oben wuseln jetzt alle ausgelassen hin und her, ein buntes Knäuel aus isländischen Musikern. Sie lassen sich feiern und feiern sich selbst, während FM Belfast einen ihrer Hits spielen: „Underwear“. Den kennen hier alle, er ist eine Hymne an die Einsamkeit, die Heimat und die unwirkliche Landschaft Islands.

„We come from a place where we count the days“, singen Árni Rúnar Hlödversson und Lóa Hlín Hjálmtýsdóttir zu breiten Synthie-Flächen. Der Beat setzt ein: „until nothing, until nothing – nothing ever happens here.“ Isländische Nächte mögen lang und ereignislos sein, auf das Hier und Jetzt bezogen trifft der Songtext so gar nicht zu. Das Publikum singt geschlossen mit, drückt durch anhaltenden Jubel aus, dass die Musik doch weitergehen möge. FM Belfast müssen den letzten Refrain mehrmals wiederholen, bis der letzte Akkord feierlich ausklingt. Frenetischer Applaus.

Im Norden ist‘s cooler

„Aldrei fór ég sudur“, der Name des Musikfestivals bedeutet grob übersetzt „Ich war noch nie im Süden“. So heißt auch der gleichnamige Song des „isländischen Bruce Springsteen“ Bubbi Morthens. Die Gegend um die acht Autostunden entfernte Hauptstadt Reykjavik im Südwesten des Landes – so die Aussage des Songs – sei längst nicht so cool wie die Westfjorde oben im Norden. Isafjördur heißt der Ort, an dem das alljährliche Festival stattfindet. Mit knapp 4.000 Einwohnern ist die Stadt die größte des von Fjorden durchzogenen Zipfels am nordwestlichen Rand der Insel und sein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum. Viel nördlicher kann man nicht mehr wohnen. Bis in den Mai kann es schneien und die Fjorde sind zugefroren. Selbst ein Juni kann kalt sein. Im Norden ist bei Sonnenschein immer Feiertag. Am „Aldrei fór ég sudur“-Festival treten etablierte isländische Künstler neben unbekannten Newcomerbands aus der Gegend auf, der Eintritt ist kostenlos – und alle spielen 20 Minuten lang. „Wenn auf Festivals Bands unterschiedlich wichtig sind, unterschiedlich lange spielen dürfen und unterschiedlich hohe Gagen bekommen, entsteht immer ein komischer Vibe“, sagt Mugison, der bürgerlich Örn Elías Gudmundsson heißt, aber als Mugison einer der bekanntesten Musiker Islands überhaupt ist. Das hat sich auch in mehreren Alben für das Label des englischen Houseproduzenten Matthew Herbert niedergeschlagen.

Seit Jahren organisiert Mugison das Festival, es war seine Idee. Er tritt auch selbst auf, am zweiten Tag, schon ganz früh. Wie alle spielt auch er 20 Minuten. „Die Atmosphäre ist viel entspannter, wenn sich alle an die gleichen Regeln halten müssen.“

Gespielt wird in einer leergeräumten Fischlagerhalle. Ein riesiges Fischernetz mit bunten Lichterketten ist die einzige Deko, es baumelt über der Bühne von der Decke. Je mehr Besucher kommen, desto wärmer wird es, denn die Halle ist teilweise offen nach draußen, und draußen wird es kälter. Für die Schülerbands Brot und The Sleeping Prophets ist es der erste große Auftritt. Brot klingen wie Rage Against The Machine und The Sleeping Prophets wie Nirvana, doch technisch spielen beide auf exzellentem Niveau – wie alle Bands hier. Dikta sind in Island schon kleine Stars, der Sprung nach Europa soll bald folgen. Ihr epischer, melancholischer Pop erinnert an Elbow und Coldplay und erntet großen Jubel. „Das Tolle bei diesem Festival ist“, sagt Jon Petursson von Dikta, „dass alles Schlag auf Schlag geht: Du gehst auf die Bühne, stöpselst ein und legst los. Keine Zeit zum Nachdenken. Das schafft Authentizität.“

Múm aus Reykjavik ist die bekannteste Band in diesem Jahr. Sie spielen ein zurückgelehntes, leises Set. Natürlich projizieren die Elektronika-Indiepop-Songperlen nach wie vor Bilder von Geysiren und Elfen vor das innere Auge, aber Múm verzichten auf die großen Gesten. Sie haben ohne Frage das Potenzial, allen anderen Bands die Schau zu stehlen – tun es aber nicht. Es geht hier schließlich, wie so oft in Island, um die Gemeinschaft. Und die war selten so wichtig wie jetzt, ein halbes Jahr nach dem Zusammenbruch des Bankensystems.

Fehlende Fördergelder

Es hätte schlimmer kommen können, auch für die Musikszene, sagt Anna Hildur, Chefin des isländischen Musikexportbüros. Zu gleichen Teilen aus Regierungsmitteln und von privaten Investoren finanziert, unterstützt das Büro isländische Musiker, wo es nur kann. Man habe reelle Chancen gehabt, die zehnfache Fördersumme vom Staat zu bekommen, sagt Hildur und lächelt müde, „doch dann kam der Kollaps“. Für die Fruchtbarkeit der Szene sei der Austausch unter den Musikern aber ohnehin wichtiger. „Die Sugarcubes, Björk und Sigur Ros sind wichtige Vorbilder für die jungen Bands. Sie zeigen, was es heißt, sich zu engagieren.“ Und sie helfen mit: Sigtryggur Baldursson, Schlagzeuger der Sugarcubes, trommelt unermüdlich bei zahllosen Bands, zuletzt auf der US-Tour von Emilíana Torrini. Sigur Ros nehmen immer wieder junge Künstler mit auf ihre großen Tourneen. Die Szene ist sehr aktiv, aber überschaubar – natürlich trifft man sich auch in Isafjördur wieder. Nur Björk ist nicht da.

Halldor Halldorsson, der Bürgermeister, ist stolz, dass seine Gemeinde das Festival beherbergt. Es überrascht ihn überhaupt nicht, dass beim Aldrei so viele Bands aus der Gegend spielen, immerhin eröffnete in Isafjördur die erste isländische Musikschule. Mittlerweile sind es zwei, und für Halldorsson ist es „unvorstellbar, dass ein Kind hier nicht zu einer Musikschule geht.“ Den Zusammenbruch des Finanzsystems nimmt er gelassen: „Wir waren jahrelang sehr reich. Klar, dass das nicht ewig so weitergehen konnte.“ Er zuckt mit den Schultern. „Dann muss unser Image eben von unserer Musikszene positiv geprägt werden.“

Gespielt wird in einer leeren Fischlagerhalle. Je mehr Besucher sich einfinden, desto wärmer wird es, die Halle ist nach außen offen

Auf dem Festival ist von Krise ohnehin nicht so viel zu sehen. Die Fischlagerhalle ist pickepackevoll. Alle Hotels sind ausgebucht, geschätzte 5.000 Besucher bevölkern den Ort. Familien mit kleinen Kindern auf den Schultern, Rentner, Studenten, Pubertierende. Sophie Noack (20) und Rebecca Schmidt (19) aus Berlin arbeiten zurzeit als FSJlerinnen in Reykjavik. Sie sind mit dem Auto hergefahren. Das war es ihnen wert, sagen sie, „es ist immerhin das zweitgrößte Festival! Island ist so klein, wir laufen ständig jemandem von Sigur Ros über den Weg oder auch mal Björk und denken dann immer: Wow! Doch außer uns juckt das offenbar niemand.“

Auch musikalisch ist am zweiten Tag viel los: Klikkhauser ist eine junge Countryband mit Kontrabass. Die fünf jungen Gothic-Mädchen von Vicky klingen hingegen wie eine Mischung aus The Sounds und Blondie. Die 40 Männer des Chores Pröstur og Púfutittlingar („Die Gebirgsbrüder“) singen in schwarzen Anzügen mächtige Hymnen auf die Heimat und die Landschaft. Der Älteste ist 89, sein Enkel mit 14 Jahren jüngster Chorknabe. Eine Rockband begleitet sie, und obwohl man kein Wort versteht, bekommt man auch als Ausländer sofort ganz patriotische isländische Gefühle.

Die größte Entdeckung sind aber Mammút: nervöser, aggressiver Postpunk mit isländischen Texten von drei Mädchen und zwei Jungs um die 20. „Wir sind so glücklich, hier zu spielen“, erzählt die energiegeladene Sängerin Katrina Mogensen und grinst, „wir haben Mugison angebettelt, bis er uns eingeladen hat.“ Wer nah vor der Bühne steht, hat das Gefühl, umgeblasen zu werden, so druckvoll kommen die beiden Gitarren daher. Mammút erinnern immer wieder an Sonic Youth und die Yeah Yeah Yeahs in Düster und haben mit „Raudilaekur“ einen Hit im Gepäck. Trotz aller Hiobsbotschaften aus Island: Mammút sollte man sich merken.

Örn Elías Gudmundsson aka Mugison glaubt sowieso, dass die Krise auch ihre guten Seiten hat: „Jahrelang haben wir nur über unseren eigenen Wohlstand nachgedacht“, sagt er. „Und plötzlich sind alle betroffen. Unsere Situation ist uns viel deutlicher bewusst als früher. Leute fangen wieder an, nachzudenken. Meinungen zu haben. Zur Welt, zu unserem Land, wie die Zukunft aussehen könnte. Wir sind wieder mit Extremen konfrontiert, und das hat definitiv einen positiven Einfluss auf die Musikszene. Die Leute singen mehr auf Isländisch, sie sind insgesamt kreativer.“