: Verhaften und verhören
Die Verwaltung des öffentlichen Raums und andere Komplexitäten: Eine Frederick-Wiseman-Reihe im Arsenal zeigt die Entwicklung des amerikanischen Dokumentarfilmers vom Ankläger zum scheinbar unbeteiligten Beobachter
„A natural history of the way we live“ – als eine Naturgeschichte unserer Lebensweise hat der US-Filmemacher Frederick Wiseman sein Gesamtwerk mehrmals bezeichnet. Eine eigentlich paradoxe Formulierung für einen Dokumentaristen, der seit dem Ende der Sechzigerjahre, in mittlerweile 35 Arbeiten, Institutionen in den Mittelpunkt rückt, an denen ihn interessiert, wie die Verwaltung des öffentlichen Lebens ständig an Grenzen stößt. Wiseman sucht die Analogie zur Naturwissenschaft und scheut zugleich den Status des Kulturhistorikers. Weil er eher auf Entdeckungen denn auf Meinungsbildung aus ist, zieht er den Blick des unvoreingenommen Empirikers vor. Dafür spricht der Umstand, dass er vor dem Dreh kaum recherchiert. Das Filmemachen selbst wird so zur Suche, was die bloße Bestätigung einer Ansicht verhindern soll. Die Welt ist komplex. Das soll ihre filmische Aufarbeitung nicht verhehlen.
Wisemans Filme haben dahin gehend eine Entwicklung durchlaufen: „Titicut Follies“ (1967), das Debüt des promovierten Juristen, war durchaus noch vom Gestus des Anklägers getragen. Die Krankenabteilung eines Gefängnisses für psychisch Gestörte zeigt er hier noch als Ort der Erniedrigung. Der Film, dessen Titel sich auf ein Varieté der Inhaftierten bezieht, wurde aufgrund „der Verletzung der Privatsphäre der Aufseher“ lange Zeit verboten.
1968, kurz nach der Democratic Convention von Chicago, sieht er im Porträt einer Polizeieinheit von Kansas City die Gelegenheit, „to get the pigs“, die Schuldigen festzunageln. Doch „Law and Order“ löst diese Intention nicht mehr ein. Wiseman fährt mit der Streife mit und ist bei Verhaftungen und Verhören dabei. Zwar wird er zum Zeugen von Übergriffen, er erlebt aber auch mit, wie ein Polizist einem orientierungslosen Mädchen hilft.
Merkbar dialektischer im Arrangement der Szenen zielt „Law and Order“ über das Sichtbarmachen des Alltäglichen hinaus. Hier geht es bereits um eine Krise, die umfassender ist, weil sie weniger von den Freiheiten der Gewalt berichtet als von einer permanenten Überforderung, die gesellschaftliche Hintergründe hat. Ähnliches gilt für „Hospital“ (1970), in dem er ein Krankenhaus der Armen porträtiert, das sich im Ausnahmezustand befindet, weil nicht das Engagement, sondern die Mittel fehlen. Ob in seinen Erkundungen des militärisch-industriellen Komplexes, von „Basic Training“ (1971) bis „Missile“ (1988), oder kapitalistischer Produktionsstätten („Meat“, 1975), Wiseman hat aus der Position des unbeteiligten Beobachters facettenreiche Mosaike ganz diverser Einrichtungen erstellt.
Sein kommentarloses Mitvollziehen von Prozessen steht zwar in der Tradition des Direct Cinemas. Anders als dessen Pioniere Richard Leacock und die Maysles-Brüder reizen ihn an dieser Methode aber nicht die performativen Qualitäten, sondern die Möglichkeit, soziale Praktiken aufeinander zu beziehen.
Wisemans Filme wurden mit der Zeit immer länger, wobei sich die Dauer aus der Erschöpfung eines Themas ergibt. „Welfare“ (1975) verfolgt annähernd drei Stunden die bürokratischen Verschleißerscheinungen eines Wohlfahrtszentrums. Sechs Stunden lang beschäftigt sich „Near Death“ (1989) mit der Frage, wie man mit sterbenskranken Patienten in einem Bostoner Krankenhaus verfährt. Seine späteren Filme entfernen sich immer mehr von klassischen Institutionen, dringen in neue Lebenswelten vor.
Von der Werbeagentur in „Model“ (1980) führt etwa ein direkter Weg in die Räume des Luxuskaufhauses von „The Store“ (1983): Hier wie dort geht es um die Verfertigung von Bildern, die für eine Konsumgesellschaft bedeutsam sind.
Die Warenwelt, durch die Menschen ähnlich den Zombies aus George A. Romeros „Dawn of the Dead“ flanieren, zeigt Wiseman als geschlossenen Kreislauf, den der dokumentarische Blick aufbricht, indem er den Produktionsprozess ergänzt. Das „Wirkliche“ wird in diesen Filmen als Konstruktion erkennbar, das Vertraute erscheint fremd, eben naturalisiert. Nicht zuletzt deshalb ist Wiseman einer der wenigen Filmemacher, die uns bestimmende Lebensweisen neu zu betrachten lehren.
DOMINIK KAMALZADEH
Bis 31. 3., Arsenal, Potsdamer Str. 2. Termine siehe Programm oder www.fdk-berlin.de