: Vom Gehen durch die Landschaft
10 Buchhits aus der Welt der Wanderer: Gehen zum Zwecke des Studiums, des Abenteuers, der Erfahrung oder gegen den Weiblichkeitswahn
VON CHRISTEL BURGHOFF
„Wu will Ähr hünn?“ „Waß wüll Ähr da machchen?“ Der Wiener Passbeamte ist fassungslos. Der Mann, der von ihm einen Pass will, kommt zu Fuß über Prag und Dresden aus Grimma bei Leipzig und will durch ganz Italien weiterwandern bis nach Syrakus auf Sizilien. Mitten im Winter und obwohl alle Wege von unberechenbarer Soldateska und von Banditen unsicher gemacht werden. Wir schreiben die Jahreswende 1801/02, die napoleonischen Kriege haben Europa durcheinander gewürfelt. Aber Johann Gottfried Seume will zu Fuß gehen, weil er gehen will. Dem Passbeamten erklärt er ausweichend etwas vom „Studium des Theokrit“. Den Vorfall in Wien kommentiert Seume später in seinem berühmt gewordenen Buch (Spaziergang nach Syrakus, Eichborn, Andere Bibliothek).
200 Jahre später landet ein moderner Weitwanderer wieder einen verblüffenden Bucherfolg. Der Journalist Wolfgang Büscher (Berlin–Moskau, Rowohlt TB) schließt im Frühjahr 2001 in Berlin die Haustür hinter sich und geht auf Napoleons Spuren bzw. denen der „Heeresgruppe Mitte“ bis nach Moskau. Er braucht 83 Tage für über zweieinhalbtausend Kilometer. Interessant, wie der Journalist den Osten heute charakterisiert: Er empfindet ihn wie eine Naturgewalt, die vor ihm zurückgewichen ist wie ein geschmolzener Gletscher. Weil nämlich niemand mehr Osten sein will, weil keiner mehr dazugehören will. Büscher geht hier praktisch gegen den Zeitgeist. Die Geschichten, die er komponiert, sind ausgesprochen spannend. Hinter Minsk, nach einem bizarren Besuch in der „Zone“ des Tschernobyl-Reaktors, lässt Büschers Schwung langsam nach. Mechanisch, fast stumpfsinnig, so lässt er durchblicken, wandert er zuletzt gen Moskau.
Vor allem seit den 70er-Jahren sind interessante Wanderbücher auf dem Markt. Etwa vom Filmregisseur Werner Herzog. Vielleicht kam Herzog lediglich durch Schreck über eine schlechte Nachricht auf die Beine, vielleicht wollte er wirklich dem Schicksal auf diese Weise etwas Zeit abringen: Herzog erfährt vom bevorstehenden Tod der hochverehrten Protagonistin der neuen deutschen Films, Lotte Eisner. Er bricht direkt auf: Herzog geht zu Fuß, von München nach Paris ans Sterbelager, auf einer gedachten geraden Linie durch die Landschaft. Er geht bei absolutem Ekelwetter zur denkbar schlimmsten Jahreszeit, vom 23. 11. bis zum 14. 12. 1974. Und er führt ein Tagebuch, das er vier Jahre später veröffentlicht (Vom Gehen im Eis, Hanser, zzt. vergriffen). Lotte Eisner übrigens lebte noch 10 Jahre weiter.
1980: Michael Holzach, der erfolgreiche Reporter, bricht als Trebegänger und ohne Geld aus Hamburg zu einer Wanderung durch Deutschland auf. Sein erster Gang führt in ein Tierheim, wo er sich einen Hund aussucht, der von nun an dabei ist. Deutschland von ganz unten – ein Test über Warmherzigkeit in der reichen BRD. Wer gibt, wer nimmt auf, wer schenkt Aufmerksamkeit? Holzach interessiert sich außerdem für Ökothemen. Und er versteht sein journalistisches Handwerk. So stellt er uns die damals verdreckte Emscher im Ruhrgebiet drastisch-plastisch vor Augen; vor allem aber macht er die demoralisierenden Zustände in Obdachlosenheimen unter Kranken und Ausgebrannten deutlich. Und auch das Glück unter einzelbrötlerischen Bergbauern an der österreichischen Grenze, die dem Reporter Arbeit und Essen und ein Bett geben und die Möglichkeit, nachts den Sternhimmel zu sehen. Nach einem halben Jahr erreicht er wieder Hamburg, erschöpft und ziemlich krank. Sein Buch (Deutschland umsonst, campe paperback) erscheint in immer neuen Auflagen. Es liest sich wie eine Ballade auf die alte BRD.
1990 ist deutsch-deutsche Verbrüderung angesagt. Der Dresdner Literat Thomas Rosenlöcher, als Wanderer eigentlich ungeübt und auch nicht mehr ganz jung, macht sich auf zu einer Tour auf den Brocken im Harz. Der Einsatz lohnt sich. Eine historische Momentaufnahme. Und hart an der Satire. Vor allem, wenn man bedenkt, wie sperrig sich die Wirklichkeit seither zur Wendeeuphorie verhalten hat. Die neue deutsche Befindlichkeit bietet reichlich Stoff für ein kleines literarisches Glanzstück (Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, edition suhrkamp).
Wanderliteratur von Frauen ist eher eine Seltenheit. Und selbst eine fanatische Wanderin wie die Schriftstellerin Simone de Beauvoir, die meistens allein und mit leichtem Gepäck in Spanien und Frankreich unterwegs war, hat ihre Touren nicht in Literatur verarbeitet. Um so enthusiastischer wird Anfang der Achtziger das Buch der Australierin Robyn Davidson (Spuren, Rowohlt TB) aufgenommen: Sie durchquert von Alice Springs aus das australische Outback mit vier Kamelen und einem Hund im Schlepptau. Davidsons Trip wird vor allem als Frauenliteratur gehandelt, denn die Wanderin erklärte entschieden, dass es ihr bei ihrem „Wahnsinnsprojekt“ um ihr Selbstbewusstsein ging. Sie wollte die Merkwürdigkeiten des so genannten Weiblichkeitssyndroms loswerden. Davidson kämpft sich in jeder Hinsicht durch: Sie muss den Umgang mit Kamelen lernen, ihren Lebensunterhalt und den Trip organisieren, sich in einer Männergesellschaft durchsetzen, in der „Männer Männer sind und Frauen na ja“. Die Aborigines, deren Stammesgebiete sie durchquert, bezeichnen sie als die „Verrückte“ – obwohl Walkabouts deren originäre Erfindung sind. Doch Davidson genießt es, sich „desozialisieren“ zu können und die Wirkung von Weite und großartiger Landschaft zu spüren. Geschickt, geradezu verführerisch verknüpft sie ihre Selbsterfahrung mit der Durchwanderung des Outback.
Wo beispielsweise eine ausgewiesene Wanderroute wie der Appalachian Trail im Osten der USA schon dreieinhalbtausend Kilometer lang ist und durch reine Wildnisgebiete führt, da werden auch die Natur- und Wandererfahrungen zum Hauptthema der Schreiber. Amüsant zu lesen sind etwa die Wandererfahrungen von Bill Bryson auf dem Appalachian Trail (Picknick mit Bären, Goldmann TB). Bryson ist der weltweit erfolgreichste Reisebuchautor. Als Wanderer überzeugt er vor allem deshalb, weil er sich mit dem Gehen genauer befasst und es als „Zen der Bewegung“ beschreibt. Bryson wirkt entspannt.
Für Abenteuerliteratur zu reflektiert, für Wanderliteratur eigentlich zu spektakulär, das ist der Bericht von Colin Fletcher (Wanderer durch die Zeit, Diana Verlag) über die erste durchgängige Wanderung durch den Grand Canyon im Jahr 1963. In den USA gilt Fletcher als Klassiker der Wildernessliteratur. Sein Unternehmen dauerte zwei Monate, es war riskant und erforderte eine aufwendige Logistik. Überdies war Fletcher allein. Er versteht seinen Abstieg in den Grand Canyon wie das Eintauchen in das Museum der Menschheitsgeschichte.
Einem, der seine Wanderung in die Wildnis nicht überlebte, hat Jon Krakauer (In die Wildnis, Serie Piper) ein Denkmal gesetzt. Krakauer, der mit einem Buch über eine verunglückte Everest-Expedition weltberühmt wurde, recherchiert die Vorgeschichte, die Chris McCandless, einen jungen US-Amerikaner aus einer erfolgreichen Ostküsten-Familie, 1992 auf den Stampede Trail nach Alaska führt. Ihn interessiert am Leben von McCandless auch jede Menge Eigenes, denn Krakauer sieht offensichtlich Ähnlichkeiten zwischen seinem Helden und sich selbst. Krakauer auf Motivationssuche: Warum schlägt ein vielversprechender, gut ausgebildeter junger Mann den Weg ins einfache Leben ein? Warum begibt er sich in Gefahr? Krakauer rehabilitiert ihn, denn McCandless war in jeder Hinsicht vorbereitet und topfit. Vielleicht war sogar dies der Grund für den Gang in die Wildnis: die Risikobereitschaft eines testosterongesteuerten jungen Mannes.
Ob das neueste Wanderbuch auf dem Markt ein Hit wird? Der Autor ist kein Unbekannter. Er ist Manuel Andrack, das Alter Ego des TV-Entertainers Harald Schmidt. Der Titel: Du musst wandern. (Kiepenheuer & Witsch TB) Und genau dies tat Andrack auch. Vor allem in der Eifel und im Harz. Das Buch soll im März erscheinen. Wir sind gespannt.