: Trip für Melancholiker
Wandern im andern Piemont: Das Mairatal ist einer der letzten wilden Flecken Europas.Dieser verlassene italienische Landstrich lockt mit Einsamkeit und einer hervorragenden Küche
VON VIOLA KEEVE
Das Valle Maira ist der letzte wilde Fleck Italiens – im engen Schlauch der Cottischen Alpen wohnen weniger Menschen als in Alaska. Hier tischen Landgasthöfe Rotwein, Trüffel und frische Steinpilze auf. Doch wer konnte, ist in den Fünfzigern und Sechzigern weggezogen, in die Fiat-Stadt Turin. Oder in die Feinschmecker-Fressgegend des Piemont, die Langhe, wo es Arbeit gab und Zukunft, andere Familien und Nachbarskinder zum Spielen. Kein Gütesiegel für ein Tal, das „il buco nero del Europa“, das schwarze Loch Europas, genannt wird – der letzte wilde Fleck Italiens.
Das Mairatal mit alten Maultierpfaden, schroffen Felsen und nebligen Hängen ist eine Landschaft, aus der die Menschen davongelaufen sind, in der alte Weiler und ein paar dicht gedrängte Steinhäuser in Wäldern versinken. Hier leben zwei Personen pro Quadratkilometer. In Alaska sind es vier. Und der Verfall der Region, die rund 80 Kilometer von Nizza und zwei Autostunden von Turin entfernt ist, hält an. 1999 wurde die Schule in Celle di Macra, nach dem Abgang des letzten Schülers, geschlossen.
Dabei ist das Valle Maira so schön, bizarr und ursprünglich, dass einem manchmal der Atem stockt – ein vergessenes Stückchen Erde. Weiße Piemonteser Kühe grasen auf trockenen Weiden neben Apfelbäumen. Aus den windschiefen Häusern, die am Berg kleben, steigt ab und zu Rauch auf. Viele Häuser sind nur noch Ruinen. Wer die Tür eines mit Brennnesseln und Brombeeren zugewachsenen Hauses aufstößt, auf dem „pericolo di crollo“ (Einsturzgefahr) steht, entdeckt mitunter einen alten Schlitten, eine Weinpresse oder eine Truhe, einen Teppich, eine Lampe an der Decke voller Staub und Dreck, verblichene Wäscheklammern aus Holz auf einer Leine – ganz so, als hätten es die Bewohner fluchtartig verlassen.
Für wenig Geld kann man hier Haus und Grund kaufen. Doch wer macht das schon? Nur ein paar Rentner und Aussteiger, Idealisten wie Paolo Rovero, der am Wochenende sein Feinschmeckerlokal „Lou Savarnot“ für Stadtflüchter öffnet und ihnen Trüffel und frische Steinpilze serviert, oder Elena und Roberto aus Turin, die mit ihrer Locanda „alla Napoleonica“ im Bergdorf Stroppo auf sanften Tourismus setzen, das Tal neu beleben wollen.
Die wandernden Gäste kommen vor allem aus Deutschland und der Schweiz. Italiener fahren vielleicht Auto oder Vespa, zu Fuß gehen sie nur in Notfällen. Auf alten Maultierwegen schon gar nicht. Dabei entgeht ihnen einiges, der Blick von oben auf die weiße Kirche von San Pietro, die Melancholie der Landschaft. Der Lavendel ist schon verblüht. Rote Hagebutten leuchten vor kargen Dreitausendern, Bäche plätschern. Lärchen färben sich langsam gelb.
Der Maira-Rundweg ist kein Geheimtipp mehr. Aber Massentourismus gibt es nicht – noch nicht. Das schönste Stück auf einsamen Höhen der „percorsi occitani“, der okzitanischen Pfade, führt von Macra über Caudano, Stroppo nach San Martino, vorbei an Felsnestern, mit Kirche und geraniengeschmückten Häusern, vor denen sich Brennholz stapelt.
Der „Sherpa-Bus“ von Gianni Piloti bringt Gepäck von einem „posto tappa“ (Etappenposten) zum nächsten. Wer weiter wandert, über Elva nach Chiappera, ans Ende des Tals, steht plötzlich in einer Mulde an einem Bach, aus dem später ein Wasserfall wird, gesäumt von Bäumen, schiefergrauen und weißen Hängen und rot gefleckten Wiesen – ein kleines Bergparadies des rauen Südens.
Auf der ungeteerten Passstraße im Schatten des Rocca la Meja, des Zuckerhuts, rumpelt ein Trecker mit Anhänger herunter, an dem ein Hund festgebunden ist, und ein Auto mit dem Wohnwagen der Kuhhirten. Das Mairatal war immer abgeschnittener als andere Täler, eng gewunden. Nur eine Straße führt von der Po-Ebene, von Cuneo, hinein in den 30 Kilometer langen Schlauch. Am Ende liegen hohe Berge, Dreitausender, die den Übergang nach Frankreich im Winter schon immer beschwerlich machten.
Kein Wunder, dass das „Valle Maira“ eines der verlassensten Täler Italiens ist – und eines der ärmsten dazu. So arm, dass Menschen hier um die Jahrhundertwende ihr Haar verkauften. Bis zum Zweiten Weltkrieg war es das Zentrum der Perückenmacher Europas.
Schwarz, aschblond und silbergrau war gefragt, dicke Zöpfe brachten den Haarjägern, den Caviés, viel Geld. Bis es Kunsthaar gab, boomte das Geschäft. Die Abnehmer saßen in Paris, London und Amerika. Die weißen Perücken im britischen House of Lords etwa stammen aus dem Piemont. Fast alle Perücken kamen aus Elva, in den Neunzigern noch die ärmste Gemeinde Italiens mit nur hundert Bewohnern.
In den Mittagshitze streunen nur zwei Hunde um die Dorfkirche. Sonst ist es still, fast menschenleer. Die Haarjäger von einst sind hier nur noch Erinnerung. Um die Jahrhundertwende waren sie elegant gekleidet, schreiben die Autoren Ursula Bauer und Jürg Frischknecht in ihrem Wanderführer „Antipasti und alte Wege“. Unerlässlich war für sie ein gewinnendes Auftreten, Verhandlungsgeschick, Fremdsprachen und eine Prise Verführungskunst. Denn nicht jede Frau war ohne weiteres bereit, sich den Zopf bis auf die Kopfhaut abschneiden zu lassen. Für Monate war die kahle Stelle im Nacken ein Stigma der Armut, unübersehbar.
Das „Valle Maira“ ist ein eigenartiges Tal, ein Kuriosum. Hier sprechen viele noch Okzitanisch, die alte Sprache der Minnesänger und Troubadoure, in der Dante zuerst seine „Göttliche Komödie“ schreiben wollte. Durch den wieder erwachten Lokalpatriotismus hört man hier auch wieder okzitanische Musik – gespielt auf Ziehharmonika, Geige, Flöte und Schlagzeug. Wehmütig klingt das, nach der Bedächtigkeit, Mühsal und Einsamkeit des Valle Maira.
Wenn der Schnee im Herbst spät fällt, kann man hier bis Ende Oktober wandern und im alten Grafenpalast in Dronero herrschaftlich schlafen, dem Bed-&-Breakfast-Hotel „Casa Conte“ mit Park und Balkon für 62 Euro. Oder an den Berg geschmiegt in der steinernen „Locanda del Silenzio“ in Camoglieres bei Macra. Das Doppelzimmer ist mit 120 Euro pro Nacht seinen Preis wert: stilvolle Bauernzimmer mit schweren Betten, roten Vorhängen – und exzellentem Essen.
Fünf Gänge serviert die Hausherrin vor dem Kamin: Gorgonzola-Crostinis, Gnocchi „fatto in casa“, Polenta mit Blumenkohl, gegrilltes Schwein mit grünen Bohnen und eine Panna Cotta Caramel zum Dahinschmelzen. Das Haus hat sich der „Slow Food“-Bewegung verschrieben, 1989 von Journalist Carlo Petrini aus dem Piemont gegründet, als das erste McDonald’s in Rom öffnete, eine Art „Greenpeace der Gastronomie“, die auf traditionellen Genuss regionaler Zutaten setzt. Nach einer Flasche rubinrotem, kräftigem Barbera del Alba Superiore mit Duft von Pflaumen und Brombeeren rollt der gefüllte Gast nur noch ins Bett.
Anfahrt: mit dem Auto über Basel, Bern, Montreux, das Aosta-Tal und Turin nach Cuneo, Dronero, Macra.Übernachten: Locanda del Silenzio, Camoglieres, Macra, Tel. (01 71) 99 93 05, www.locandadelslienzio.com oder: Bed & Breakfast Casa Conte, Dronero, Tel. (01 71) 91 81 03, alle Restaurants und Unterkünfte über www.ghironda.comBuchtipps: „Antipasti und alte Wege – Valle Maira, Wandern im andern Piemont“, Ursula Bauer und Jürg Frischknecht, Rotpunktverlag Zürich 2004, 22 Euro, „Das schwarze Tal“, Eberhard Neubronner, National Geographic Taschenbuch 2002, 11 Euro