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Archiv-Artikel

Aufstand gegen die Lebensmittelchemie

NEPP Erdbeergeschmack aus Holzspänen, haltbare Frischmilch und Käse, der keiner ist: Aufgeweckt von der Verbraucherzentrale, beginnen die Kunden, sich gegen den Betrug im Supermarkt zu wehren

Lebensmittel-Hersteller erlauben sich viel, wenn sie den Absatz steigern wollen

VON MART-JAN KNOCHE

Die Hamburger Verbraucherzentrale wird zurzeit von E-mails überschwemmt. Die Anfragen betreffen vor allem Analog-Käse, angeblich „länger frische“ – das heißt besonders haltbare – ESL-Milch und Mogelpackungen. „Eigentlich mache ich nichts anderes mehr als diese Mails zu bearbeiten“, sagt Armin Valet, Ernährungsberater bei der Verbraucherzentrale Hamburg.

Seit zehn Jahren schon sei er dabei, und natürlich: Es habe „so Highlights wie BSE“ gegeben oder den Skandal um Gammelfleisch vor drei Jahren. Doch damals, berichtet Lebensmittelchemiker Valet, habe er nur für „kurze Hochzeiten“ soviel zu tun gehabt wie nun bereits seit einigen Monaten. Mitte Mai war die Homepage der Verbraucherzentrale Hamburg zwei Tage lang nicht erreichbar. Unter der Last von rund 100.000 Besuchern war der Server zusammengebrochen. „So eine Nachfrage hatten wir noch nie“, sagt Valet.

Dabei galten die deutschen Verbraucher bislang als beliebig beeinflussbare Masse: den manipulativen Tricks der Lebensmittel-Industrie ausgeliefert – spätestens sobald sie die „Psychofalle Supermarkt“ betreten. Valet hat ein Buch mit diesem Titel geschrieben.

Die Lebensmittel-Hersteller hierzulande erlauben sich viel, wenn sie den Absatz ihrer Erzeugnisse steigern wollen: Sie bilden Erdbeeren auf Joghurtbechern ab, verwenden aber in ihnen nicht einmal den Hauch einer Erdbeere – sondern Aromen aus Holzspänen. Sie packen weniger ein, kassieren aber die gleiche Summe vom ahnungslosen deutschen Verbraucher.

Den hanseatischen Verbraucherschützern ist es gelungen, in bisher unerreichtem Maß die Medien in ihre Kampagnen einzubeziehen und damit bei Ernährungsthemen bundesweit die Meinungsführerschaft zu übernehmen. Ende April talkte Armin Valet in „Menschen bei Maischberger“ und stellte Röntgenbilder von „Mogelpackungen“ vor: Schokolinsen-Tüten, die sich, wie er knapp zwei Millionen Zuschauern zeigte, durch „viel Luft und wenig Inhalt“ auszeichnen. Die Einschaltquoten waren besser als bei Johannes B. Kerner und in der Redaktion „alle überrascht“, hieß es. Da lud Kerner den Hamburger zwei Wochen später selbst ein, um über Analog-“Käse“ zu debattieren.

Auch zu dem Pseudokäse aus Pflanzenfett hatte Valet eine Aktion gestartet. Valet und seine Kollegen riefen Verbraucher dazu auf, ihnen Produkte mit Analog-“Käse“ zu nennen. Dann veröffentlichten sie eine „Nepp-Käse“-Liste, die gegenwärtig immer länger wird und bereits einige Hersteller zum Einlenken veranlasste. Sie versprachen das Produkt zu ändern und künftig dem Verbraucherwunsch nach echtem Käse zu folgen.

Andere Medien zogen nach. Sie machten Valet und seine Kollegen zu Hauptfiguren in ihren Artikeln. Eine Welle von Anrufen überschwemmte die Verbraucherzentrale: „Was kann ich tun, außer nicht mehr einzukaufen?“, fragten viele. Mit einer Klebezettel-Aktion versuchen die Verbraucherschützer die Lust auf private Initiative zu kanalisieren: „Wo ist denn die Frischmilch?“-Sticker verteilen sie nun.

Von Lethargie bei den Verbrauchern könne keine Rede mehr sein, sagt Valet. Die jüngsten Coups haben einen schlafenden Riesen geweckt – zumindest den Signalen nach, die Armin Valet in der Kirchenallee 22 empfängt.