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Archiv-Artikel

SHEILA MYSOREKAR POLITIK VON UNTEN Krise kann Spaß machen

In der Wirtschaftskrise muss man mal Dinge tun, die man sich sonst einfach nicht traut. Warum klappt das in Lateinamerika – und hier so gar nicht?

So eine Wirtschaftskrise ist was richtig Spannendes. So kenne ich das zumindest aus Argentinien, damals im Dezember 2001, als das Land zusammenbrach. Tausende protestierten jeden Tag auf den Straßen, und ich habe jede Menge nützliche Dinge gelernt, zum Beispiel in nur einer Ampelphase eine Barrikade zu bauen und anzuzünden, um zentrale Verkehrsadern zu sperren. Der Volkssport hieß „Politiker verjagen“. Argentinien hatte in zehn Tagen fünf Präsidenten; mehr Geduld mit seinen Repräsentanten hatte das Volk auf dem Höhepunkt der Krise nicht.

Das ist hier ganz anders. Geduldig sehen die Deutschen zu, wie ihre Politiker Sozialprogramme und Arbeitnehmerrechte zusammenstreichen. Man quengelt vielleicht im Privaten, macht mal einen Tag Bildungsstreik, aber spontane Aufstände, Generalstreiks, Banken stürmen – also alles, was bei einer Krise wirklich Spaß macht –, das gibt’s hier einfach nicht.

Was Kritik am Turbokapitalismus angeht, sind uns die Südamerikaner ein paar Jahrzehnte voraus. Lateinamerika hat schon rund 20 Jahre früher als der Rest der Welt eine neoliberale Wirtschaftspolitik gehabt, denn dort hatten Heuschrecken aller Art freie Bahn, um ihre Theorien am lebenden Objekt auszuprobieren: Während der Militärdiktaturen, allen voran der chilenischen, konnte ungestört von Gewerkschaften, Medien und anderen Quertreibern geprobt werden.

Jetzt hat Europa – zum Beispiel Deutschland – die großartige Gelegenheit, von den Lateinamerikanern zu lernen. Tun wir das? Nein, natürlich nicht. Wie die Latinos vor 20 Jahren haben wir die Arbeit flexibilisiert, Sozialleistungen gekürzt, den Reichen Steuerentlastungen beschert, Punkt für Punkt, als säße Pinochet im Kabinett. Man braucht nur Venezuela oder Bolivien anzuschauen, um zu sehen, wie das weitergeht: rapide Verarmung, soziale Unruhen, Aufstände und schließlich: eine radikalisierte Bevölkerung, die linke Regierungen wählt.

In zehn Jahren ist Gregor Gysi Bundeskanzler. Dachte ich jedenfalls – bis zur Europawahl. Wen wählen die Deutschen? Dieselben Knallköppe, die uns das alles eingebrockt haben. Hallo? So geht das nicht. Bei einer Krise muss man Dinge tun, die man sich sonst nie trauen würde. Haben die argentinischen Arbeiter damals auch gemacht. Ich schwör’s, es funktioniert.

■ Die Autorin ist Journalistin und bei der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland

Foto: Firat Bagdu