: Erwerbsfähig, aber auf dem Jobmarkt nicht vermittelbar
Was macht man mit den Kranken? Das war von Anfang an der kritische Punkt bei Hartz IV. Jetzt sorgt er für Streit zwischen den Kommunen und Wirtschaftsminister Clement
BERLIN taz ■ Die Frage war von Anfang an heikel, schon als Rot-Grün plante, Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen. Was macht man eigentlich mit den Schwerstvermittelbaren, den gesundheitlich Eingeschränkten, die kaum eine Chance haben auf dem Jobmarkt? Sollen die auch alle in die Statistik? Der frühere Chef der Bundesagentur für Arbeit, Florian Gerster, schlug damals vor, die Erwerbslosen in „arbeitsmarktnah“ und „arbeitsmarktfern“ einzustufen. Der Plan galt als nicht umsetzbar, also einigte man sich auf die jetzige Regelung: Jeder, der mindestens drei Stunden am Tag „zu den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes“ tätig sein kann, gilt als erwerbsfähig.
„Übliche Bedingungen“ schließt dabei nach den Regeln für das Arbeitslosengeld II ein, dass auch Behinderte als erwerbsfähig gelten. Denn es gibt ja zum Beispiel viele Rollstuhlfahrer oder Beinamputierte, die arbeiten.
Nach den Durchführungsverordnungen der Arbeitsagenturen fallen unter „erwerbsfähig“ auch Kranke, die „innerhalb von sechs Monaten“ wieder arbeiten können. Diese zeitliche Vorgabe ist ein Knackpunkt – denn meist lässt sich eben nicht mit Sicherheit sagen, dass die Kranken nach sechs Monaten garantiert nicht drei Stunden am Tag erwerbstätig sein könnten. Auch Suchtkranke gelten als arbeitsfähig, zumal die Suchtberatung ausdrücklich im Sozialgesetzbuch II als Leistung für die Langzeiterwerbslosen festgeschrieben ist.
Die Kriterien für den Anspruch auf Arbeitslosengeld II sind also weit gefasst, und genau das schafft jetzt Probleme. Denn die Sozialämter haben im Dezember vergangenen Jahres hunderttausende ihrer Sozialhilfeempfänger aufgefordert, einen Antrag auf Arbeitslosengeld II zu stellen. Im Antrag musste nur angekreuzt werden, ob der- oder diejenige mindestens drei Stunden am Tag einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann. Eine vorübergehende Krankheit ist dabei kein Hindernisgrund.
Diese Daten gaben die Sozialämter dann in die Software der Bundesagentur für Arbeit (BA) ein, als Daten von Arbeitslosengeld-II-Empfängern. Bei jedem dieser Antragssteller zuvor die Erwerbsfähigkeit noch mal konkret etwa durch einen Arzt prüfen zu lassen lag dabei nicht im Interesse der Sozialämtern von Städten und Gemeinden. Die Sozialämter sind nämlich finanziell nicht mehr zuständig, wenn ein Empfänger Arbeitslosengeld II bekommt. Dann zahlt der Bund.
Werden Kranke auf diese Weise in das Arbeitslosengeld II geschoben, sparen die Sozialämter nicht nur die Sozialhilfe, sondern auch die Behandlungskosten von Stützeempfängern. Dafür mussten sie früher oft direkt aufkommen. Wandern die Kranken aber in das Arbeitslosengeld II, dann zahlt die zuständige Arbeitsagentur den Krankenkassen eine Pauschale von monatlich 125 Euro, die Kassen wiederum sind zuständig für die Behandlungskosten wie bei jedem anderen Versicherten auch.
Für die Krankenkassen ist die Verlegung von kranken Sozialhilfeempfängern in das Arbeitslosengeld II daher ein sattes Minusgeschäft, für die Sozialämter hingegen eine große Entlastung.
Die Krankenkassen würden viele Arbeitslosengeld-II-Empfänger nun wieder zurückstufen in die Sozialhilfe. Doch das ist schwierig. Um strittige Fälle zurückzustufen, müssen die Arbeitsagenturen die Betroffenen zu einem Gutachter der medizinischen Dienste der Krankenkasse schicken – und diese dann feststellen, dass der oder die Erkrankte tatsächlich voraussichtlich auch noch nach sechs Monaten nicht in der Lage sein wird, drei Stunden am Tag auch nur eine leichte Arbeit zu verrichten. „Eine solche Beurteilung ist schwierig“, sagt Werner Marquis, Sprecher der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der BA. Die Arbeitsagenturen rechnen daher nicht mit einer massenhaften Rückstufung der Erwerbslosen.
Unbestritten ist dennoch bei Städten und Gemeinden, dass bei der massenhaften Eingabe der Daten von Sozialhilfeempfängern in die Empfängerregister von Arbeitslosengeld II im vergangenen Dezember Fehler passiert sind – und auch Greise, Kinder oder Schwerstkranke in den Listen landeten. „Das sind jedoch Einzelfälle“, sagt Hans-Günter Henneke, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages.
An den schlechten Jobchancen von Suchtkranken oder sonst wie gesundheitlich Beeinträchtigten ändern die Einstufungen jedoch nichts, so oder so. „Erwerbsfähig“, seufzt ein Sachbearbeiter einer Arbeitsagentur, „heißt nun mal keineswegs: vermittelbar.“
BARBARA DRIBBUSCH