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Archiv-Artikel

Prekärer Hang zum Chaos

Die Unzufriedenheit bei Hertha BSC nach dem keineswegs souveränen 4:1 gegen den HSV zeigtdie gewachsenen Ambitionen der Berliner. Die Hamburger ärgern sich über ein „Seuchenspiel“

AUS BERLIN MATTI LIESKE

„Wir hatten uns vor dem Spiel mehr vorgenommen“, grämte sich Hertha-Torwart Christian Fiedler nach der Partie gegen den Hamburger SV. Sein Trainer Falko Götz mochte da nicht nachstehen: „Wir haben eines unserer schlechteren Spiele gemacht.“ Wenn so Vertreter einer Mannschaft reden, die gerade 4:1 gewonnen hat, so legt dies zweierlei nahe: dass es ein merkwürdiges Match war und dass die Ansprüche bei Hertha BSC ziemlich hoch sind. Tatsächlich zeigten die Berliner gegen den HSV ihre zwei Gesichter in dieser Saison. Eine Halbzeit lang demonstrierten sie, warum sie in der Tabelle so weit oben stehen, in der anderen dann, warum sie nicht noch weiter oben stehen.

Häufig war in letzter Zeit die Rede von der besten Innenverteidigung der Liga, bestehend aus den Hamburgern Daniel van Buyten und Khalid Boulahrouz. Dabei fiel unter den Tisch, was ein kurzer Blick auf die Tabelle verrät: Hertha hat mit Josip Simunic und Dick van Burik, die bei aller Wertschätzung niemand auf die Kandidatenliste für die beste Innenverteidigung setzen würde, 20 Tore kassiert, der HSV aber nunmehr schon deren 36. Was direkt zur Analyse des Hamburger Coaches Thomas Doll führt, mit der jener sein in Berlin mehrfach düpiertes Abwehrzentrum in Schutz nahm: „Tore fallen nicht nur, wenn in der Innenverteidigung das ein oder andere nicht stimmt.“

Eine Weisheit, die man bei Hertha aus vollem Herzen unterschreiben kann. In der letzten Katastrophensaison mit dem Beinahe-Abstieg hatte die Abwehrkette der Berliner oft gewirkt wie eine Horde von Zirkusclowns; verheerende Stellungsfehler und groteske Schnitzer wechselten in schneller Folge. Jetzt spielt die Kette in derselben Besetzung kompakt, selbstbewusst und sicher – solange das Mittelfeld funktioniert. Waren die Abwehrleute früher nahezu schutzlos den Angriffen des Gegners ausgeliefert, der nach Belieben durch ein defensiv inexistentes Mittelfeld spazieren konnte, hat die Inkorporierung von Kräften wie Gilberto, Bastürk oder Reina Wunder der Vorwärtsverteidigung gewirkt. Beispielhaft eine Szene nach wenigen Minuten, als Yildiray Bastürk dem Hamburger Jarolim an der Mittellinie so zusetzte, dass der jeden Spielaufbau vergessen konnte und zum Torwart zurückpassen musste. Diese defensive Dynamik im vorderen Bereich entlastet nicht nur den hinteren, der sich in Ruhe formieren kann, sondern auch Spielmacher Marcelinho, der mehr Kraft als früher für die Offensive spart. Zudem ist es Falko Götz gelungenen, die großen Fehleinkäufe der letzten Saison sinnvoll ins Team zu integrieren: Fredi Bobic auf der Bank, Niko Kovac als resoluter Abräumer auf dem Platz.

Die erste halbe Stunde der Herthaner war eine perfekte Umsetzung der These, dass gute Defensive für gute Offensive sorgt. Vor allem das Konterspiel klappt vorzüglich, weil Marcelinho, Gilberto, Bastürk und Reina nicht nur genau wissen, wohin sie laufen müssen, sondern jeder auch in der Lage ist, den richtigen Pass im richtigen Augenblick zu spielen. Und sie nützen ihre Chancen. 3:0 nach 31 Minuten, die Sache schien gelaufen.

Doch dann zeigte sich das zweite Gesicht der Hertha, die mehrfach in dieser Saison sicher geglaubte Siege noch verspielt hatte, weil sie irgendwann komplett auseinander fiel. Götz hatte zur Pause von Dreier- auf Viererkette umgestellt, außerdem ließ der Elan im Mittelfeld nach. Die Berliner gerieten weit mehr unter Druck, als ihnen gut tat, besonders angesichts der Kopfballüberlegenheit des HSV. Zunehmend schwand das Selbstbewusstsein, die Fehler häuften sich, bald ähnelten sie fatal der Chaostruppe von einst.

Bastürks Handspiel auf der eigenen Torlinie war eigentlich eine Katastrophe, denn nach seinem Platzverweis brach der Widerstand im Mittelfeld vollends zusammen. Trotzdem erwies sich sein beherztes Eingreifen als Segen. Wäre dem HSV in dieser 62. Minute ein Treffer gelungen, hätte er die Partie wohl gedreht. Nachdem Bastürks Hand ein sicheres Tor verhindert hatte, setzte Barbarez den Elfmeter jedoch an den Pfosten. Sein Kopfballtor in der 78. Minute kam dann zu spät, das 4:1 durch den chancensicheren Gilberto drei Minuten später klärte die Sache endgültig.

Von einem „Seuchenspiel“ sprach nach hoch überlegen geführter zweiter Halbzeit Thomas Doll, aber wenn man erst mal hinten läge, sei es eben nicht so einfach, Tore zu schießen „gegen die beste Abwehr der Liga“. Selbst wenn diese plötzlich wirkt, als habe sie ein böser Zauberer in die des VfL Bochum verwandelt – die schlechteste der Liga.

Hertha BSC: Fiedler - Friedrich, van Burik, Simunic - Marx (80. Madlung), Kovac - Bastürk, Marcelinho, Gilberto - Reina (66. Dardai), Wichniarek (46. Fathi)Hamburger SV: Pieckenhagen - Schlicke, Boulahrouz, van Buyten, Klingbeil (52. Mahdavikia) - Jarolim, Wicky (36. Benjamin), Moreira (46. Lauth), Beinlich - Barbarez, TakaharaZuschauer: 40.399; Tore: 1:0 Reina (4.), 2:0 Gilberto (16.), 3:0 Marcelinho (31.), 3:1 Barbarez (78.), 4:1 Gilberto (81.); rote Karte: Bastürk (62.)