Die gelben Einwanderer

„Wenn die Chinesen kommen!“ bedeutete im Kaukasus jahrhundertelang: Das passiert nie. Nun passiert es doch

Die taz-Serie „Die Agronauten“ fragt: Sind auch Sie bereit fürs Land? Die Chinesen sind es, wie uns Wladimir Kaminer berichtet

Der Süden Russlands galt lange Zeit als Musterbeispiel des sowjetischen Internationalismus. Der Fremde, der andersgläubige Nachbar, war hier seit Urzeiten ein fester Bestandteil des Alltags. Osseten, Tscherkessen, Russen, Ukrainer, Armenier, Inguschen, Kabardiner, Tschetschenen leben hier. Sie sind Muslime, Christen, Feueranbeter. Werden als Eingeborene oder Zugezogene bezeichnet. Alle leben in Frieden, ohne allerdings einander besonders zu mögen. Alle sind in einer mysteriösen Höflichkeit verstrickt, die oft überkandidelt wirkt. Selbst zu einem Bekannten sagt man nicht „Guten Tag“ in den Rücken. Er könnte sich erschrecken und unangemessen reagieren. Die letzten tschetschenischen Kriege haben noch mehr Waffen in den russischen Süden gebracht. Selbst wenn einer mit einer Kalaschnikow durch die Gegend läuft, wird er früh genug auf einen mit einer Stinger-Rakete stoßen. Wenn man also einen mit einer Rakete trifft, am besten nicht ansprechen.

In den Neunzigerjahren wurde diese nette Gemeinschaft zu einem beliebten Zufluchtsort für viele Minderheiten, die nach dem Ende des Sozialismus ihre Heimatorte wegen ethnischer Konflikte verlassen mussten: Armenier aus Aserbaidschan, russische Kosaken aus Tschetschenien und Kurden, wobei niemand genau wusste, woher die nun kamen. Es interessierte aber auch niemanden sonderlich. Der russische Süden war schon immer dünn besiedelt, dort fanden noch im 17. Jahrhundert flüchtige Wehrpflichtige, Andersgläubige und Rebellen aller Richtungen Unterschlupf. Mit der Auflösung der Sowjetunion verwilderten die Felder. Auf den Weideplätzen grasten keine Pferde und Kühe mehr. Und dann passierte das, was immer in solchen Fällen passiert: Die flüchtigen Völker trafen auf verlassenes Land.

Die Neuankömmlinge wurden natürlich von den Einheimischen geprüft, die Versuchung auf leichte Beute stirbt auch im Kaukasus nie aus. Bei den Kosaken aus Tschetschenien ging es ganz schnell. Die einheimischen Nachbarn kamen eines Abends, um den Neuen ihre Jagdgewehre zu präsentieren. Die Kosaken zeigten ihrerseits stolz, was sie aus Grosny mitgebracht hatten: AK 74, Vollautomatik, 600 Schuss pro Minute. Sie redeten noch ein wenig über das Wetter und die Aussichten auf eine gute Ernte, schließlich wünschten sie sich gegenseitig ein friedliches Leben und gingen auseinander.

Auch die Armenier wurden respektiert, die Kurden zogen irgendwann weiter. Und so lebten sie in der Steppe, Sowjetunion hin oder her – es gab für alle viel Platz und wenig Staatsgewalt Dann eines Tages, Mitte der Neunzigerjahre, kamen die Chinesen. Diese Völkerwanderung brachte sogar die gelassensten Kaukasier etwas aus der Fassung. Von den Chinesen hatte man hier bis dahin nur aus dem Fernsehen gehört, wenn mal wieder davon berichtet wurde, sie hätten im Fernen Osten und in Sibirien bereits große Territorien bevölkert.

Oft illegal eingereist, gründeten sie in der Taiga Landkommunen, hackten Holz und verkauften es nach China. Die rechten russischen Zeitungen schlugen Alarm: „Unser geliebtes Vaterland wird von China überrannt!“ Im Süden machte man aber eher Witze darüber, wir werden hier schon über die Runden kommen, zumindestens bis die Chinesen kommen, hieß es ironisch im Volksmund.

Gemeint war: Das wird nie passieren. Aber plötzlich waren sie da. Die Chinesen pachteten die ehemaligen Sonnenblumen- und Maisfelder, versumpften den Boden mit Wasser und pflanzten dort Lauch an. Die chinesischen Lauchzwiebeln waren musterhaft groß und wurden gerne auf den Märkten gekauft. Danach fingen die Chinesen an, Reis anzubauen. Die Einheimischen schimpften über sie. Das Wasser in der Gegend ist salzig und mineralhaltig, die Erde, die mit solchem Wasser verseucht wird, bringt zwei bis drei Jahre eine gute Ernte, ist aber danach für mehrere Jahrzehnte unfruchtbar. Die verfluchten Chinesen versauen unseren ganzen Boden, regten sich die Einheimischen auf, sie haben überhaupt keinen Bezug zu dieser Erde. Die Chinesen wollten aber auch keinen Bezug dazu entwickeln, sie pachteten einfach ein neues Stück Land, wenn das alte nichts mehr hergab, ansonsten schufteten sie hart auf ihren Feldern. Von den Jagdgewehren der Einheimischen zeigten sie sich auch unbeeindruckt. Inzwischen ist die chinesische Gemeinde im Nordkaukasus eine feste Größe. Und wenn die Ordnungshüter bei den neuen Pächtern vorbeischauen, werden sie mit Geld oder Waren geschmiert. Nach einer Weile konnten die meisten anderen Völker sich mit den Chinesen vertragen, nur die Russen schimpfen weiter. Weil die Chinesen ihre kurze Freizeit anscheinend nicht nur zum Schlafen und zur Erholung nutzen: Nach jeder Pachtsaison werden in den russischen Dörfern mehr chinesische Kinder geboren, im Volksmund werden sie liebevoll-rassistisch „Schlitzäuglein“ genannt. WLADIMIR KAMINER