: Hölle, Hölle, Hölle
Wo Norddeutsche in mäßig anheimelnder Umgebung allen Konventionen zu entsagen glauben: Zum 30. Mal trug sich am Wochenende das Kostümfest „Lilabe“ in der Fachhochschule Hamburg-Bergedorf zu – von der Springerpresse gar mit der größten Orgie der Hansestadt verwechselt
aus Hamburg Alexander Diehl
Es ist noch keinen Monat her, da war auf diesen Seiten zu lesen, welch skurrilem, geradezu widernatürlichen Begehr der traditionslose Norddeutsche nachgebe, wenn er am Vorabend des Frühlingsbeginns aus der ihm eigenen Rolle fährt, sich kostümiert und karnevaleskem Treiben sich hingibt.
Solche Kritik hat zwar die Autorität einiger Kanon gewordener Regalmeter kulturgeschichtlicher Erkenntnis im Rücken, beugt sich andererseits ohne Not einem Sentiment des Das-war-ja-noch-nie-da.
Eine angeblich katholische Affinität zum Es-krachen-Lassen vor der Fastenzeit hin, die (relative) Abwertung des kirchlichen Festkalenders im Zuge der Reformation her: Es wiegt derlei Glaubensmäßiges kaum noch schwer genug, als dass sich darüber die Feierlaune von Großstädtern – und, mehr noch, Speckgürtelbewohnern – regulieren ließe. Bedürfte es dafür eines Beweises, am Freitag und Sonnabend war er zu haben, und das zum bereits 30. Mal an selber Stelle: beim erklärt größten Kostümfest Nord-, wenn nicht Gesamtdeutschlands namens „Lilabe“.
Dem Stadtteil Bergedorf im Hamburger Südwesten verdankt die Sause das „be“ im Namen. Menschen im ausbildungsfähigen Alter mögen Bergedorf, gut 40.000 Einwohner, wegen seiner austauschbaren Fußgängerzone oder des Schlosses kennen, gar schätzen. So manchem ist das Städtchen aber wohl einzig wegen der dortigen Außenstelle der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) ein Begriff.
Hier, in der früheren FH Bergedorf, werden ansonsten seriöse Dinge erforscht und gelehrt: Ökotrophologie und Wirtschaftsingenieurwesen, auch kann der Masterabschluss in „Public Health“ erworben werden. Wenn aber in den Karnevals- und Faschingshochburgen weiter südlich gerade die letzten Reste des Aschermittwochs zusammengefegt werden, wandelt dieser Ort seinen Charakter. Dann wird für zwei Nächte im Februar aus dem Foyer des Hochschulbaus mit seinem Endsiebziger-Funktionalismus eine monströse Lasterhöhle mit Verkleidungszwang, mithin „Hamburgs größte Sex-Orgie“.
Dann wimmelt es hier von wild gewordenen Büro-Ludern, promiskuitiven Arzthelferinnen und leicht bekleideten angehenden Bauarbeitern, allesamt so jung wie paarungsfreudig, geht es unter steinernen Treppen in verwinkelten Abseiten zur Sache, fallen Hüllen und Hemmungen, entdeckt der ansonsten karg protestantisch im steten Winde ausharrende Nordmensch das in ihm lodernde Feuer. So zumindest geben es alljährlich die verschwitzten Vollmundigkeiten des lokalen Boulevard-Handwerks wieder, flankiert vom entsprechenden Bildrepertoire.
Tatsächlich aber ist Lilabe weniger ein Fall für den Jugendschutz als einer für die Nostalgie-Polizei: Zwischen Bierausschank und „Hau-den-Lukas“, elektrischem Bullen und „Fummelwiese“ dröhnen auf Geheiß örtlicher Privatradiosender, Ausgeh-Illustrierten und Spirituosenmarken mitgröltaugliche Partykracher von „Rockin‘ All Over The World“ bis Wolfgang Petry („Hölle, Hölle, Hölle!“). Man nehme den Charme einer improvisierten Großraumdiskothek, ein Animationsprogramm zwischen Wasserpistolenverlosung und den so genannt größten Hits der 50er bis 90er Jahre, leidlich billigen Alkohol an jeder Ecke und die Aussicht auf einen freien Sonntag zur Rekonvaleszenz.
Ein Konzept, dass auch in diesem Jahr gut 7.000 undogmatische Närrinnen und Narren anlockte, die immerhin 33 Euro pro Abend zahlten – die Veranstalter gaben sich zufrieden, auch wenn es in der Vergangenheit schon mehr Vampire und Panzerknacker, Engelchen, Teufelchen oder Krankenschwestern nach Bergedorf geschafft hatten.
Seit jeher haftet dem Kostüm-Event das Image wenn schon nicht von freier Liebe, so doch wenigstens körperlicher Freizügigkeit an. Gleichwohl erzählte Veranstalter Hans Herbert Böhrs dieser Tage dem Norddeutschen Rundfunk, habe man früher mehr Kabarett und Comedy im Programm gehabt, während es heute nur noch um Party gehe.
Deren Zukunft scheint aber vorerst ungefährdet, nachdem im vergangenen Jahr brandschutztechnische Bedenken für einige Nervosität gesorgt hatten. Zumindest verwiesen Böhrs und seine Mitveranstalter auf ihrer Internetpräsenz wenige Stunden nach dem Ende dieser „stressfreien Superparty“ auf den geplanten Termin der nächsten. Und bedankten sich artig: „Ihr habt mal wieder gezeigt, wo in Norddeutschland der Hammer hängt!“