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Archiv-Artikel

Integration statt Revolution

Die Enkel Che Guevaras lernen regieren. Die Macht, die Verhältnisse in Südamerika wirklich zu ändern, haben sie nicht – ihre Chance ist die Solidarität der Länder des Südens

Lateinamerikas Regierungen haben sehr wohl Ideen für große ReformvorhabenIm Moment der Krise setzt Europa auf mehr Markt. In Südamerika geht es genau in die andere Richtung

Es ist mehr als nur eine Amtsübergabe: Heute Morgen zieht in Montevideo der scheidende uruguayische Präsident Jorge Batlle vor dem Kongress die Amtsbinde aus und streift sie seinem Nachfolger Tabaré Vázquez über. In diesem symbolischen Akt wird zum ersten Mal in Uruguay die Rechte der Linken die Regierungsgewalt überlassen. Und auf den Zuschauerrängen klatschen Fidel Castro aus Kuba, Hugo Chávez aus Venezuela, Néstor Kirchner aus Argentinien und Lula da Silva aus Brasilien Beifall.

Ab heute haben sie einen neuen Verbündeten. Seitdem das neoliberale Modell der 90er-Jahre in Südamerika in die Krise geriet, hat auf dem Kontinent die politische Richtung gewechselt: Es geht linksum. In Argentinien, Brasilien, Venezuela und Uruguay sind linke Regierungen an die Macht gekommen, in Bolivien steht ebenfalls ein Machtwechsel bevor.

Das Problem dabei ist, dass so gut wie alle Länder unter der Schuldenknechtschaft leiden. Die hohe Staatsverschuldung ist der Schlüssel zur Disziplinierung der neuen linken Regierungen. Die Länder Südamerikas überweisen Milliarden von Dollar an Schulden und Zinsen nach Norden. Gleichzeitig sind sie darauf angewiesen, ihre Kreditwürdigkeit nicht zu verlieren, um ihr Haushaltsdefizit zu finanzieren. Fließt der Schuldendienst einmal langsamer, droht sofort Ungemach. Die Zinsen schießen in die Höhe, Investoren bleiben weg, die Währung gerät unter Druck – meist stürzt in solchen Turbulenzen die Regierung.

Das bedeutet, dass die Staaten Südamerikas nur über eingeschränkte Souveränität verfügen; ihre Regierungen halten ständig Blickkontakt mit der Wall Street. Lula in Brasilien oder Vázquez in Uruguay müssen gut überlegen, wie sie ihren Haushaltsplan anlegen – allzu teure Sozialprogramme lassen Anleger in New York und Frankfurt aufschrecken, das Risiko auf einen Zahlungsausfall steigt, da Geld anstatt in den Schuldendienst in inländische Projekte fließt.

Flankenschutz erhalten die Anleger von supranationalen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Weltbank, die die weltwirtschaftlichen Spielregeln in Form von Abkommen mit den Ländern verankern können. So muss Argentinien etwa einen Haushaltsüberschuss von jährlich drei Prozent erwirtschaften; das Abkommen zwischen dem Fund und dem krisengebeutelten Land sieht es so vor. Man stelle sich vor, Gerhard Schröder würde gezwungen, in Deutschland staatliche Leistungen so stark zu kürzen, dass er einen solch enormen Überschuss erzielen kann. Womöglich wäre das sein politisches Ende – und zwar vollkommen zu Recht.

Es ist nur wenig Spielraum, der den neuen Linken für Veränderung tatsächlich noch bleibt. Man kann Lula und Kirchner ihren starken Hang zur Realpolitik vorwerfen, man kann sie dafür kritisieren, dass ihnen der Mut fehlt, große Veränderungen zu wagen. Man kann ihnen aber nicht vorwerfen, dass ihnen dazu die Ideen fehlen.

Politisch und wirtschaftlich versuchen die neuen Linken vorsichtig, die neoliberalen Reformen der 90er-Jahre zu entschärfen. Verstaatlichungen von einst privatisierten Firmen, Aufgabe der überbewerteten Währungen, Industrieförderung sind die neuen Merkmale einer Krisenwirtschaft. Dies scheint der einzige Weg zu sein. Nach dem marktradikalen Kahlschlag der vergangenen Dekade ist es die Aufgabe der Regierungslinken zunächst, den Staat als Regulationsinstanz zu rehabilitieren. Es sind milde Linke, die es in die südamerikanischen Präsidentenpaläste geschafft haben, trotzdem stehen sie für eine neue Politik.

Interessant ist dabei ein Blick über den Atlantik. Nie war Europa stärker dereguliert als heute, doch im Moment der Krise reagiert Europa mit noch mehr Markt und verabschiedet sich damit vom Modell des rheinischen Kapitalismus. In Südamerika geht es genau in die andere Richtung. Die neoliberale Hegemonie der 90er-Jahre führte nicht zu Wohlstand, sondern stürzte fast alle Länder des Kontinents in schwere Krisen. Und die neuen Regierungen steuern mit mehr staatlicher Regulierung dagegen – ein Zurück zum Markt erscheint heute als nicht denkbar. Das liegt aber auch daran, dass die Krise in Südamerika zum Wiedererwachen der sozialen Bewegungen auf dem Kontinent geführt hat. Landlosen, Arbeitslosen, Kleinbauern gelingt es als organisierte Kraft, in vielen Ländern Druck auf die Regierungen auszuüben. Auch hier lohnt sich der Vergleich, insbesondere mit Deutschland. Während sich die deutsche Linke nicht dazu durchringen kann, gemeinsam als Wahlalternative bei den nächsten Bundestagswahlen an den Start zu gehen, haben die progressiven Kräfte auf dem Subkontinent ihre Verantwortung erkannt und lieb gewonnene Ideale auf dem Altar der Einheit geopfert. Nur so war Vázquez’ Wahlsieg in Uruguay möglich.

Doch der Erfolg der linken Regierungen hängt auch stark davon ab, wie es ihnen gelingt, auf internationaler Ebene die Verhältnisse zu verändern – und das ist derzeit utopisch. In der EU finden Lula, Kirchner und Vázquez keine Bündnispartner, in den USA schon gar nicht. Doch wenigstens eine stärkere Regulierung weltwirtschaftlicher Verhältnisse wäre nötig. Selbst das ist nicht durchsetzbar, und schon gar nicht, wenn es Länder abseits der Zentren sind, die dies fordern.

Als Alternative bleibt daher den neuen Linksregierungen nur noch die verstärkte Süd-Süd-Kooperation. Die Gegnerschaft zu einer von den USA vorangetriebenen panamerikanischen Freihandelszone ist daher auch der kleinste gemeinsame Nenner der linken Milden in Südamerika. Gegen Freihandel unter US-Führerschaft setzen sie auf die Vertiefung der nachbarschaftlichen Beziehungen auf dem Subkontinent und auf den Handel mit gleich starken Partnern. Integration statt Revolution lautet das neue Programm.

Fraglich jedoch, ob das schon ausreicht, um die Verhältnisse in den Ländern zu verändern und das enorme soziale Ungleichgewicht wenigstens ein wenig zu verändern. Aber es ist ein Anfang. Progressive Veränderung in Südamerika scheint derzeit möglich. Doch bei dem Prozess der Veränderung werden auch Rückschläge und Niederlagen auf die Linksregierungen zukommen. Nur weil einige Regierungen gewechselt haben, ist dies nicht notwendigerweise der Beginn einer neuen Epoche.

Zu Recht warnt José Mujica, ehemaliger Stadtguerillero der Tupamaros und neuer Senatspräsident von Uruguay, vor allzu hohen Erwartungen an seine neue Regierung. Gefragt, ob die Linke in Uruguay jetzt die Macht erobert habe, gab er zur Antwort: „Macht ist etwas, was uns zu groß ist, wir haben es an die Regierung gebracht.“ Macht hat die nationale Bourgeoisie, haben ausländische Investoren, haben die internationalen Finanzmärkte, haben die Disziplinarinstitutionen wie der IWF. Deshalb können Veränderungen von den Regierungslinken in Südamerika nicht allein in die Wege geleitet werden. INGO MALCHER