Schockgefrorene Sprache

Auch in München findet das Stück „Die Kriegsberichterstatterin“ von Theresia Walser nicht die Regie, die es verdient

Walsers Erfindungen sind „souveräne Unglücksspezialisten“, die sich an ihrer Sprachkraft aus dem Moder ziehen, in dem sie stecken

Wenigstens weiß hier gleich jeder, woran er ist: Florian Boesch hilft als Regisseur seit Jahren Theatertexten auf die Bühne, denen er nichts hinzuzufügen hat. Die Autorin Theresia Walser hat in letzter Zeit oft verschnupft reagiert, wenn ein Regisseur ihren ausgefuchsten Sprachwitz und das labile Gleichgewicht ihrer Dialoge mit allzu vielen eigenen Ideen beschwerte. Die Uraufführung ihrer „Wandernutten“ am Staatstheater Stuttgart hat sie deshalb als zu bilderlastig verworfen. In Konstanz, wo im vergangenen Herbst das Auftragsstück „Die Kriegsberichterstatterin“ uraufgeführt werden sollte, einigte man sich einen Tag vor der Premiere auf dessen Absetzung. Beide Seiten waren mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Dagmar Schlingmann, Konstanzer Intendantin und Uraufführungsregisseurin zugleich, bemängelte Textänderungen bis zur letzten Minute, Theresia Walser war der Zugriff auf ihre Figuren zu abstrakt.

Sie schreibe, sagte die Autorin kürzlich in einem Interview, „polyphone Konfliktmusik“. Darum schätzt sie es gar nicht, wenn der Regisseur mit seinen Schauspielern kein Orchester bildet, sondern plötzlich an Einzelschicksalen hängt. Wenn er seine Duftmarke hinterlässt, bevor er noch recht den Eigengeruch des Stückes kennt. Oder wenn statt des verlangten Tisches ein Auto auf der Bühne steht: „Natürlich muss der Tisch kein Tisch sein. Es geht ja nicht um das Möbel, sondern um die Unausweichlichkeit einer Situation“, schrieb Walser in der Frankfurter Rundschau, wo sie sich über „ihre Nöte mit der Regie“ und deren „Profilierungssucht“ ausbreiten durfte. „Die deutsche Autorin mit dem größten Gefühl für Sprache“ (SZ) hat nämlich die Medien hinter sich.

Wer nach dieser Vorgeschichte etwa dazu neigte, Martin Walsers jüngste Tochter als selbstverliebte Sprachhüterin zu brandmarken, wird sich nun ertappt vorkommen. Spielt doch „Die Kriegsberichterstatterin“ ausgerechnet auf dem spätsommerlichen Gartenfest eines dubiosen Instituts, das Wortschätze hortet. Fast schon antike wie „Rentnerschwemme“, „Oheim“ – oder „Schurkenstaat“ aus der aktuellen Kollektion. Doch während man solcherlei funkelndes Gut einsammelt und in Gefriertruhen frisch erhält, sterben dem Institut die Menschen weg. Sie bekommen eine Auszeichnung und fallen wie Herr Kern flugs mit ihrer besten Hose aus dem Fenster. Viele sind nicht mehr übrig am Ende des zirka zweistündigen Stücks.

Im Münchner Marstall, einer Nebenspielstätte des Bayerischen Staatsschauspiels, hat auch „Die Kriegsberichterstatterin“ selbst ihren zweiten Uraufführungsversuch nur mit Ach und Krach überlebt. Boesch schickt verzweifelt grimassierende Schauspieler im ziellosen Zickzacklauf durch vermeintlich vermintes Gelände. Und traut sich nicht, etwas anderes zu wollen als den Text an die Ohren der Zuschauer zu tragen und die Fütterers, Mückenmüllers und (J)Ossis darin aussehen zu lassen, wie sie heißen. „Wie sich ein Mensch so zu einem Namen zusammenballt“, heißt es sehr schön im Stück. Boeschs Inszenierung walzt Namen auf Menschengröße aus und macht sie so platter, als sie sind.

Am schlimmsten hat es Lisa Wagner erwischt, deren ewige Doktorandin Olga ein hypernervöses Dauerzittern zum Matrosenkleidchen trägt. Oder Beatrix Doderer, die als Institutsleitersgattin so tapfer wie sinnlos ihr Dekolleté Gassi führt. Allesamt unerbarmungswürdige Kriecher-, Versager- und Großkotz-Karikaturen. So sind sie und so bleiben sie – und darum gewinnt der Abend auch nicht an Spannung, als die abgehärmt-fahrige Christine Schönfeld als Titelfigur durch ein Loch in der gemalten Hecke huscht und die Neuigkeit mitbringt, dass es in den Gärten ringsum schon Tote gibt, Hunde, die aus Blutpfützen trinken, und ganze Familien mit seltsam verrenkten Hälsen. Zwar stacheln die Botschaften der Kriegsberichterstatterin die Sensationslust an, aber es wird eben nur lauter, nicht bedrohlich oder abgründig gar.

„Souveräne Unglücksspezialisten“ nannte die Zeitschrift Theater heute die Figuren Theresia Walsers. Das war 1997, als es diese Autorin noch zu entdecken galt – vor der Uraufführung ihrer düsteren Altenheimfarce „King Kongs Töchter“. Gemeint war, dass sich Walsers Erfindungen an ihrer Sprachkraft aus dem Moder ziehen, in dem sie stecken, und ihr komisches Potenzial stets durch Zynismus verdunkelt wird. In München nun, an Dieter Dorns Staatstheater-Boulevard für Gebildete, wird mit dieser sensiblen Sprache umgegangen, als habe sie Walser mit dem Schlagbohrer gedrechselt. Immer geht es hoppladihopp auf die nächste Pointe zu: „Da draußen frisst was unsere Brötchen“ – oder: „In unseren besten Zeiten kamen wir immer ohne Zukunft aus.“ Das ist lustig, tönt aber nicht, töst nur. Schade!

Gerne erinnert man sich nach diesem Fiasko an das Jahr 2000, als der Regisseur Jan Bosse für die Uraufführung von „So wild ist es in unseren Wäldern schon lange nicht mehr“ kurzfristig seine Inszenierung totalentschlacken musste: Der bezaubernd versponnene Wildwuchs in Walsers unzähmbaren Theaterfiguren konnte hier in aller Ruhe im Sitzen erblühen, und die Autorin war’s zufrieden. Diesmal stehen zwar wieder Stühle auf der Bühne – und endlich auch der geforderte Tisch. Aber das böse, dunkle Tier darunter, das unvorhersehbare Grausamkeitspotenzial in uns allen, das war halt doch nur ein bunt ausstaffierter Wadenbeißer.

SABINE LEUCHT