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Archiv-Artikel

Diskriminierung durch Rührung

Unzutreffende Bilder von Querschnittslähmungen: Amerikanische Behindertenorganisationen protestieren scharf gegen Clint Eastwoods Film „Million Dollar Baby“

Die Haus- und Grundstückeigentümer-Verbände, die Arbeitgeberclubs und sonstige Lobbygruppen, die derzeit in der Bundesrepublik so erfolgreich gegen ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz mobilmachen, können sich neuerdings auch auf einen Oscar-Preisträger berufen. Clint Eastwood, der sein Geld in Immobilien und Hotelresorts anlegt, hat es als Kämpfer gegen den „Americans with Disabilities“-Act vor knapp fünf Jahren bis auf die ersten Seiten des Wall Street Journal geschafft: Skrupellose Anwälte würden Behinderte ausnutzen, um einen schnellen Dollar zu verdienen, indem sie Geschäftsleute mit haltlosen Klagen überzögen, behauptete der Filmstar und trat auch vor dem Rechtsausschuss des Kongresses in einer Anhörung auf, als republikanische Abgeordnete versuchten, das von der deutschen Behindertenbewegung als vorbildlich bewertete Antidiskriminierungsgesetz zu entschärfen. Eastwood wusste, wogegen er auftrat: Behinderte hatten ihn 1997 verklagt, weil er in seinem neu umgebauten Hotel „Mission Ranch“ lieber 7.000 Dollar einsparte, statt die Badezimmer behindertengerecht auszustatten.

Angesichts dessen überrascht es nicht, dass Eastwoods mit etlichen Filmpreisen, darunter mehreren Golden Globes und Oscars, prämierter Film „Million Dollar Baby“ in den US-Medien auch als Abrechnung mit der Behindertenbewegung wahrgenommen wurde. „Disabled v. Eastwood: Round Two“ titelte beispielsweise die Denver Post, „Eastwood continues disability vendetta“ hieß es anderswo. Scharfe Kritik kassiert Eastwood von behinderten Kritikern seines Films für die Figur des „Danger“, der als Karikatur eines Menschen mit Lernbehinderung wahrgenommen wird. Vor allem aber stoßen sich Autoren wie Steven Drake, der im Behinderten-Online-Magazin Ragged Edge veröffentlicht, oder Mary Johnson, die in der Chicago Sun-Times kommentiert, an der Darstellung der jungen Boxerin Maggie, die nach einem Unfall querschnittgelähmt ist und nur noch sterben will, ein Wunsch, den zu verwirklichen ihr der gealterte Boxtrainer Frankie schließlich hilft.

Diane Coleman, eine andere Autorin aus dem Spektrum der Behindertenbewegung, kritisiert: „ ,Million Dollar Babys‘ Darstellung von Maggies Erfahrungen als Behinderter ist gespickt mit unzutreffenden Behauptungen über Querschnittlähmungen, medizinische Probleme, Rehabilitation und die Möglichkeit der Integration in die Gesellschaft. Warum, um ein Beispiel zu nennen, landet Maggie in einem Pflegeheim, statt effektive Rehabilitation zu erhalten? Und warum wird ihr Wunsch, sich umzubringen, nicht in Zusammenhang mit der miserablen Pflege gebracht, die sie offenbar bekommt, da ihr aufgrund von Druckstellen ein Bein amputiert werden muss?“

In der New York Times hat die Kolumnistin und Pulitzer-Preisträgerin Maureen Dowd diesen KritikerInnen entgegengehalten, sie missverstünden den Unterschied zwischen Kunst und Politik. Während es die Aufgabe der Politik sei, einen Konsens zu finden, der möglichst wenig Menschen schmerze, müsse Kunst manchmal provozieren. Eine Auffassung, die der Eastwoods selbst entgegenkommt, der in einem Interview mit der Los Angeles Times darauf hingewiesen hat, dass er in vielen seiner Filme einfach Leute erschossen habe, ohne dass er in Wirklichkeit glaube, seine Probleme mit dem Colt lösen zu können.

Für Lennard Davies, Professor an der Universität von Illinois in Chicago und einer der Begründer der Disability Studies, gehen diese Einwände am Problem vorbei. Davies ist überzeugt, dass jeder Film scharfe Proteste intellektueller Kritiker kassiert hätte, in dem ein Bild von Schwarzen, Frauen oder Schwulen gezeichnet würde, das so diskriminierend ist wie das Bild von Behinderten, das Eastwood entwirft: „Aber die Geschichte der Unterdrückung von Menschen mit Behinderungen ist den meisten Menschen unbekannt. Für sie ist Behinderung eine individuelle Tragödie, die eine gute Filmgeschichte hergibt. Es ist ja auch viel einfacher, einen Film zu drehen, in dem wir vom persönlichen Erfolg oder der Niederlage eines Menschen zu Tränen gerührt sind, statt zu versuchen, zu verändern, welche Bilder sich diese Gesellschaft von Behinderten macht oder wie sie über sie denkt.“ OLIVER TOLMEIN