Harmlose Nelken, bedrohliche Nägel

Die Kinder als neue Trendsetter der Gegenwartsliteratur: Der Saisonauftakt im Literarischen Colloquium Berlin

Jenny Erpenbeck liest aus ihrem „Wörterbuch“, das aus einem sprachgewaltigen, beklemmenden Text besteht

Björn Kuhligk hat das letzte Wort. Die Lesung aus seinem neuen Gedichtband „Großes Kino“ endet mit dem Satz: „Solang ich mich erinnern kann, fängt das Wünschen immer von vorne an.“ Der stille, aber hoffnungsvolle Vers steht am Ende des traditionellen Saisonauftakts, mit dem das Literarische Colloquium Berlin wie immer im Frühjahr und im Herbst die neue literarische Saison eingeläutet hat. Und wenn wir schon beim Wünschen sind: Ebenso traditionell wie die Veranstaltung am Wannsee selbst ist natürlich der Wunsch, die sechs Autoren, die an diesem Abend ihre neuen Bücher vorstellen, möchten doch irgendwie repräsentativ sein für das, was in der deutschen Literatur im Augenblick so passiert.

Es sollen also Trends und Tendenzen dingfest gemacht werden. Die Moderatoren des Abends, die Übersetzer Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, begegnen zwar ihrer eigenen Rolle als Trendscouts dabei durchaus selbstironisch, wenn sie etwa die Frage aufwerfen, ob diese Suche nach dem einen großen Thema in der Literatur denn sinnvoll sei – aber immerhin: Sie können in diesem Jahr auf Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen den verschiedenen Autoren verweisen. Es ist tatsächlich auffällig: Vier von den sechs Schriftstellern dieses Abends haben Bücher geschrieben, in denen der – mal mehr, mal weniger – unverstellte Blick eines Kindes eine wichtige Rolle spielt. Joachim Helfer mit seinen Novellen fällt hier zwar ebenso aus dem Rahmen wie Björn Kuhligk mit seinen Gedichten, aber Helfer und Kuhligk unterscheiden sich ja auch in der Wahl ihrer Gattung von den Kollegen, die alle Romane oder zumindest längere Prosatexte geschrieben haben.

Der kindliche Blick also. In Michael Wildenhains Roman „Russisch Brot“ sucht der Protagonist die Geschichte seiner Mutter und dabei ein Stück weit auch sich selbst. In allen drei Szenen, die Michael Wildenhain vorliest, belauscht und beobachtet ein Kind aus einem Versteck heraus die Erwachsenen. Zweimal ist dieses Kind der lange namenlose Protagonist selbst, der versucht, sich einen Reim auf das zu machen, was er da zu hören und zu sehen bekommt. Einmal ist es dann seine Mutter, die als Kind im Krieg die Vergewaltigung ihrer eigenen Mutter durch Soldaten beobachtet. Die Kinder verstehen einerseits immer nur einen Teil dessen, was die Erwachsenen tun oder sagen, aber auf der anderen Seite verstehen sie auch immer mehr als diese. Wenn Wildenhains Protagonist am Ende doch noch einen Namen bekommt, dann ist er mit seinem eindringlichen Blick der eigenen Identität vielleicht wirklich näher gekommen. Eine ganz andere Form des scheinbar naiven kindlichen Blicks erprobt Jenny Erpenbeck, die aus „Wörterbuch“ vorliest – einem sprachgewaltigen, beklemmenden Text, dessen Untiefen erst mit der Zeit, dann aber umso deutlicher hervortreten. Das Irritierende an dieser kindlichen Erzählung sind die ganz unkindlichen Gewaltbilder, die sich immer wieder scheinbar zufällig untermischen, etwa wenn die Erzählerin aus dem Schlaflied ihrer Mutter „Guten Abend, gut’ Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt“ das Bild von den Näglein herausgreift. Eigentlich sind das harmlose Nelken, jetzt werden daraus aber ganz wörtlich Nägel, mit denen die Erzählerin auf ihrem Bett festgenagelt wird. Wenn diese bedrohliche Wucherung von eigentlich unschuldigen Wörtern zum erzählerischen Prinzip von „Wörterbuch“ wird, dann deshalb, weil hier eine besonders brisante Variante der Frage nach der Identität verhandelt wird – die Frage nämlich, was von der Identität verloren geht, wenn das eigene Leben komplett auf einer Lüge aufbaut, ohne dass man es weiß.

Marica Bodrožić erzählt in ihrem Roman „Der Spieler der inneren Stunde“ eine Familiengeschichte, die sich, wie sie selbst sagt, stark aus Bildern nährt. Diese Bilder entwickeln sich nun wieder aus dem Blick eines Kindes heraus – und dass die Autorin, die selbst im Alter von zehn Jahren aus Dalmatien nach Deutschland gekommen ist, dabei stark auf ihre eigene Geschichte zurückgreift, erklärt sie auch mit den Bildern: Sie glaube nicht, dass es überhaupt eine Wirklichkeit gebe; für sie gebe es nur Bilder, die nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern immer und unabhängig von der Zeit in ihr selbst existierten. Wenn Bodrožić’ Figuren sommers aus Deutschland nach Kroatien zurückkehren, aus der vertrauten Fremde in die fremde Heimat, dann klingt in diesem Wechsel von Fremdheit und Vertrautheit ein weiteres Thema an, das in den Romanen dieses Abends im LCB wichtig zu sein scheint.

Auch Gernot Wolframs Roman „Samuels Reise“ greift diesen Gegensatz von Fremdem und Vertrautem auf. Sein Icherzähler, ein Übersetzer, verliert auf einer Polenreise mit dem Kind seiner Freundin nach und nach das Gefühl für die Wohlgeordnetheit seines Lebens. Dabei ist es dieses seltsame Kind, dessen Verhalten dem Übersetzer den Anlass liefert, sein eigenes kindliches Staunen unterwegs wiederzuentdecken. ANNE KRAUME