Historisch unkritisch

VON CHRISTIAN BROECKING

Der Jazzmusiker Charles Mingus hatte seine Komposition „Fables of Faubus“ nach dem Politiker Orval Faubus betitelt, der 1957 als Gouverneur des US-Bundesstaats Arkansas die gesetzlich verankerte Integration an Schulen bekämpfte: Faubus hatte die Nationalgarde gerufen, um schwarze Kinder am Betreten der integrativen Schulen zu hindern. Selbst der gutmütige Louis Armstrong hatte den Gouverneur seinerzeit als „ungebildeten Bauernlümmel“ bezeichnet und gesagt, eine Regierung, die zulasse, dass die eigenen Bürger so schlecht behandelt werden, könne ruhig zur Hölle fahren. Als Charlie Mingus „Fables Of Faubus“ 1959 für sein Album „Mingus Ah Um“ aufnehmen wollte, winkte seine Plattenfirma Columbia ab. Weder wurde in den Album-Linernotes thematisiert, was es mit dem Song auf sich hat, noch ließ man Mingus seinen Text rezitieren, singen und schreien: „Faubus, warum ist er so krank und lächerlich?“

Columbia hatte es schon 20 Jahre zuvor abgelehnt, Billie Holidays Anti-Lynchjustiz-Song „Strange Fruit“ zu veröffentlichen, offenbar fürchtete man nun auch Probleme mit dem Mingus-Rap, in dem Faubus als „Nazi fascist“ bezeichnet wird. Die volle Version gab es unter dem Titel „Original Faubus Fables“ erst auf dem Album „Charles Mingus presents Charles Mingus“, die der Bassist 1960 zusammen mit dem Saxofonisten Eric Dolphy, dem Trompeter Ted Curson und dem Schlagzeuger Dannie Richmond auf dem Indie-Label Candid veröffentlichte.

Zum 50. Jubiläum der Aufnahmen wurde „Mingus Ah Um“ nun wiederveröffentlicht. Leider ohne die Urfassung von „Fables of Faubus“! Wann wiederfährt dem damals zensierten Song endlich Gerechtigkeit? Stattdessen entpuppt sich die nun vorliegende „Ah Um“-Ausgabe als Marketing-Konstrukt: Aufgemotzt auf zwei CDs werden Aufnahmen von einem weiteren Mingus-Album als reines Füllmaterial benutzt; inhaltlich haben sie rein gar nichts mit „Ah Um“ zu tun. Es ergibt keinen Sinn, wenn Produzenten von Re-Issues am Katalog einer Plattenfirma kleben, wo doch Kooperationen mit anderen Labels dringend angesagt wären.

Noch Jahre später hatte sich Mingus wegen angeblich ausbleibender Tantiemenzahlungen beklagt, „Ah Um“ soll 1959 aber erfolgreich gewesen sein. Das dem verstorbenen Saxofonisten Lester Young gewidmete „Goodbye Pork Pie Hat“ wurde zu einem Jazzstandard, auch Joni Mitchell nahm ihn auf. Bei „Better Git In Your Soul“, dem wirksamsten Stück von „Mingus Ah Um“ wird klar, wie künstlerisch vielschichtig der Musiker Charles Mingus ist, auch und gerade im Spiegel jenes äußerst produktiven Jazzjahrgangs. Etwa zur selben Zeit wie „Mingus Ah Um“ veröffentlichte Ornette Coleman „The Shape Of Jazz To Come“, Dave Brubeck „Time Out“ und John Coltrane „Giant Steps“ – allesamt Werke, die die Geschichte des modernen Jazz nachhaltig geprägt haben.

Auch Miles Davis hatte neidisch auf Mingus gehört, als der mit „Ah Um“ an die „wahnsinnigen Gospelsongs aus der Kirche“ seiner Kindheit erinnerte. Ende 1959 war Miles mit dem Arrangeur und Komponisten Gil Evans selbst im Studio, um „Sketches of Spain“ einzuspielen. Hierfür hatte Evans die langsamen Passagen des „Concierto de Aranjuez“ von Joaquin Rodrigo für Miles und Jazzorchester arrangiert. Auch diese Aufnahmen liegen nun als CD-Set von Columbia-Legacy vor, ergänzt um Archivmaterial und die einzige Live-Aufnahme des Konzertes aus der Carnegie Hall 1961. Wie der Komponist und Miles Davis-Freund Gunther Schuller in seinen exzellenten Linernotes berichtet, habe ihn Miles damals um Rat gefragt, wie er seinen Trompetenansatz verbessern könne, um auch die immer höher und schneller kommenden Töne eines Dizzy Gillespie zu erreichen. Eine Lösung fand sich in der getragenen Cool-Jazz-Flamenco-Ästhetik dieser stilbildenden Aufnahmen, die die Grundlage für Davis’ experimentierfreudiges Schaffen werden sollten.

■ Charles Mingus, „ Mingus Ah Um“ (Columbia/Legacy) ■ Miles Davis, „Sketches of Spain“ (Columbia/Legacy)