: Die toten Stellen
Mit ihrem Stück „Betrachte meine Seel“ will Christiane Pohle in den Sophiensælen die leere Mitte erkunden, die im Kern aller Lebenszusammenhänge, Weltutopien und Zivilisationskritik existiert
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
„An einer Spenderhand kritisiert man nicht herum. Sie kann doch nichts für ihr früheres Leben.“ Es steckt viel Verzweiflung in diesem Satz, den eine Frau ihrem Partner im Streit an den Kopf wirft: Beide unglücklich über sein nicht mehr Einssein mit seinem Körper und der Adoption einer Mörderhand. Ein Paar lange schwarze Handschuhe stellt diese falschen Glieder dar, um die sich die Schauspieler in den Sophiensælen des Öfteren etwas überdreht und ungeschickt balgen. Die toten Stellen im eigenen Empfindungsvermögen, der Eingriff in die Ganzheit des Körpers – sie werden zu Metaphern für den Verlust von Geborgenheit und Identität in Christiane Pohles Stück „Betrachte meine Seel“.
Christiane Pohle gehört zu den wenigen Regisseuren, die sowohl an Schauspielhäusern und Stadttheatern (in Zürich, Hamburg, Freiburg) als auch in der freien Szene mit eigenem Ensemble inszenieren. Dabei sind ihr bisher so viele Stücke gelungen, dass die Erwartung an die Uraufführung von „Betrachte meine Seel“ nicht eben klein war. Zumal interessant klang, welche Geschichte die Regisseurin zum Ausgangspunkt der Stoffentwicklung genommen hatte: Die Nachricht von einem jungen Mann, der sich selbst verstümmelte, um von der Versicherungssumme zu leben. Ist die Ausschlachtung des eigenen Körpers die letzte Möglichkeit, die Existenz zu sichern?, war dem Stück als Frage vorausgeschickt. Aber diese konkrete Spur erwies sich als ungenaue Fährte. Sie war nur eine von vielen Geschichten, die mit wenigen Sätzen aufgegriffen und eine Zeit lang hin- und hergewendet wurden wie ein musikalisches Motiv.
Sätze wiederholen sich, Szenen spiegeln sich. Sie finden vor allem am Rand der Bühne, eines großen alten Versammlungssaals, statt. Dort sehen wir dem schauspielerischen Personal gewissermaßen beim Totschlagen der Zeit in den Pausen zu, während ihre eigentlichen Aufführungen vor der Tür stattfinden: das ist eine der Rahmenerzählungen, die den Abend zusammenhalten sollen. So bleibt das Zentrum der Bühne vor uns meistens leer, nicht einmal der Mann, der mit einem Megafon ein paar Mal ansetzt, bekommt da noch einen Satz heraus. Diese große Leere, die so zufällig wirkt, ist es nicht. Sie ist viel mehr die tote Stelle im Sinngefüge, die fehlende Identität der Gemeinschaft, die so zum Bild werden soll.
Denn unter den Texten, die Christiane Pohle nach und nach ins Spiel bringt, sind nicht wenige auf der Suche nach einem Erlebnis der Gemeinschaftlichkeit. Es sind Zitate von Architekten und Utopisten wie Buckminster Fuller und Antonio Sant'Elia, berühmt und nicht minder berüchtigt für das Anmaßende ihrer Zivilisationskritik, für den Wahnsinn ihrer Weltneuschöpfungen. Sie kommen hier unvermittelt auf die Bühne, brechen aus Schauspielern plötzlich als Monologe hervor. Man kann erahnen, wie ein Kontext hergestellt werden sollte, zwischen diesen großen Formeln von Glücksversprechen und der Geschichte ihres Scheiterns und dem Scheitern der individuellen Lösungsansätze, die mehr in der ersten Halbzeit des Stücks erzählt werden. Den falschen Prothesen folgen sozusagen die falschen Propheten. Aber mehr als erahnen kann man diesen Zusammenhang auch nicht. Denn nichts verdichtet sich. Es scheint vielmehr, als ob die Leere in der Mitte die Hauptrolle übernommen hätte und alles andere als bloße Skizzen an den Rand drängt.
Christiane Pohle setzt bewusst auf eine postdramatische Entschleunigung: Aber diesmal gelingt es ihr nicht, im Unterlaufen von ästhetischen Normen eine andere Form der Aufmerksamkeit zu erzeugen, die sich sozusagen beiläufig und von hinten anschleicht. Man ahnt zwar, so sollte es werden, aber man kommt dort nie so richtig an.
„Betrachte meine Seel“, 8. bis 13. März, 20 Uhr, Sophiensæle