Unter Alphatieren: Gespräche belauschen am Nebentisch

Im Vorbeigehen höre ich vom Tisch an der Tür: „Ick ha’ in mein Le’m schon so vill Steuern bezahlt. Ick bin schon bei Haa’tz acht …“

Es ist 13 Uhr in einem der angesagtesten Restaurants der Hauptstadt, wo vom Kanzler abwärts allerlei Prominenz – und was dafür gehalten werden möchte – speist. Hier sind die meisten Tische reserviert. Meist von Männern, die in leichten Anzügen, mit Mappen oder kleinen Ordnern unter dem Arm, nach und nach ihre Plätze einnehmen. Die Konstellation der Tischgemeinschaften ist leicht zu durchschauen. Schon die Reihenfolge, in der sie zum Lunch einlaufen, macht die Hierarchie deutlich: Das Alphatier, meist in Begleitung eines höheren Untergebenen, kommt zuerst und die Jünglinge, die zuletzt Platz nehmen, bekommen zwar vom Chef noch nicht mehr als die Kopierkarte anvertraut – ihr Nadelstreifenanzug deutet allerdings an, dass sie sich für Höheres prädestiniert fühlen.

Die Chefin des Lokals begrüßt die neu eingetroffenen Gäste persönlich. Das Personal ist hektisch, es gibt viel zu tun. Die eben gekommene Tischgemeinschaft bestellt, wobei die Essenswünsche artig die Hierarchie absteigend mitgeteilt werden. Offenbar sind einige der Gäste gerade erst in Berlin angekommen – zum Einstieg wird bei gratinierten Venusmuscheln und südafrikanischem Wein über die Anreise und Unterkunft geplaudert. Ein neutrales Thema, zu dem jeder frequent flyer problemlos irgendetwas beitragen kann.

Die Gesprächsführung obliegt dem Alphatier, vermeintlich intelligente Bemerkungen werden von den Beförderungs- beziehungsweise Geschäftswilligen ins laufende Gespräch eingeworfen. Der vor sich hin plätschernde Plausch nähert sich mit den letzten Happen seinem Ende – der „Chef“ lehnt sich zurück. Nachdem die Teller mit dem Besteck auf der Fünf-Uhr-Position abgeräumt sind, wird eine Zigarette angezündet und jetzt geht es den jungen Karriereanwärtern an den Kragen. Den Satz „ … aber doch nicht beim Essen!“ haben die Herren wohl verinnerlicht. Das Business-Lunch-Gespräch ist mit englischen Fachtermini geschmückt und wird streng im Insiderjargon geführt. Ein Geschäftsabschluss mag vielleicht zustande kommen, aber der Unterhaltungswert des Gespräches ist leider nicht sehr hoch.

Vielleicht interessanter und auch dauerhaft lohnenswerter zum Mitlauschen, überlege ich mir, sind Privatgespräche. So wende ich mich zuhörenderweise den beiden Ehepaaren am linken Nebentisch zu. Wie so häufig sind die Männer in ein Gespräch vertieft und die Frauen führen ein anderes. Die blonde Dame direkt neben mir raucht konstant Zigaretten und erzählt begeistert von ihrer letzten Ayurvedakur und von einem „lacto-intensiven Micro-Peeling“. Die Ehemänner springen in ihren Themen zwischen ihren Projekten im Job und den Problemen von Angela Merkel hin und her, dabei halten sie das Banalitätsgebot stets ein.

Auch dieses Gespräch beginnt mich zu langweilen. Von dem Tisch schräg hinter mir höre ich etwas von Spielhallengeschäft und Insolvenz. Der Herr mit der Lederjacke und den leicht geschminkten Augen sagt nur schroff: „Insolvenz, so wat passiert mir nicht.“ In diesem Moment ärgere ich mich, nicht den Tisch weiter hinten genommen zu haben. Der Zufall entscheidet eben, ob ich ein Stück Privatsphäre erhaschen, ein wenig vom unverstellten Leben der anderen miterleben darf und dabei unterhalten werde oder nicht. In diesem Restaurant sind alle darauf bedacht, die Stimme gesenkt zu halten und niemanden anders an den eigenen Belanglosigkeiten teilhaben zu lassen.

Als ich am Abend, immer noch auf der Suche nach einem intimen Gespräch am Tische, ein etwas zwangloseres Restaurant betrete und mich setze, werde ich nicht enttäuscht. Ich höre, wie der Mann an der Bar zur jungen Kellnerin sagt: „Nu, jib mir ma deine Telefonnummer.“ Sie erwidert: „Nö, wieso.“ Er: „Na, du hast mir doch ’n Zeichen gegeben!“ Von der anderen Seite schwingt es zu mir her: Er: „Ick weeß ooch nich, wen ick da glaum soll. Wen würds du ’n glaum?“ Sie: „Icke? Na mir.“

Beim Rausgehen höre ich beim Vorbeigehen vom Tisch direkt an der Tür von einem Typen: „Ick ha’ in mein Le’m schon so vill Steuern bezahlt. Ick bin schon bei Haa’tz acht …“ Sein Gesprächspartner nickt und schiebt sich den letzten Happen seines Spiegeleis in den Mund.

Dass „Hartz“ nicht mehr Grund für Demos ist, sondern in die Banalität der Tischgespräche Einzug gehalten hat, scheint für die gewachsene Akzeptanz in der Bevölkerung zu sprechen, zumindest bei denen, die sich noch ein Spiegelei im Restaurant leisten können. Auf der Straße scheint es anders auszusehen: auf dem Bürgersteig, drei Schritte vom Restaurant entfernt, nesteln zwei junge Männer an einem kleinen Tütchen, der ein schnuppert daran und schüttelt den Kopf: „Wie? Dit soll Hasch sein? Nö, so wat rooch ick nich, dit ist doch höchstens Hartz vier.“

Und so mache ich mich zufrieden und irgendwie erfolgreich nach einem langen Tag auf der Suche nach der Banalität der (Tisch-)Gespräche auf den Weg nach Hause. HANNAH BRÖCKERS

Die Autorin schreibt derzeit eine wissenschaftliche Arbeit über „Gespräche am Nebentisch“