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Archiv-Artikel

Ein Tag mit Jordi, Gomringer und Reflexus

LYRIK Das Poesiefestival, das morgen zu Ende geht, bietet eine selten gehörte Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten

Plötzlich sah man vier Jordis, „drei virtuelle, einen echten“, die miteinander in Konkurrenz traten

Im Verlauf der ersten sechs Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Lyrik in zwei einander entgegengesetzte Richtungen entwickelt. Zum einen hin zu einer Poesie der gesprochenen Sprache, in der der geschriebene Text kaum mehr ist als eine Partitur, zum anderen hin zu einer grafisch-visuellen Dichtung wie der Konkreten Poesie. Trotz dieser beiden Extrempole situiert sich jedoch der Großteil der produzierten Gedichte nach wie vor irgendwo dazwischen.

Das Schöne am Poesiefestival, das am Sonntag mit einer Lesung der US-amerikanischen Spoken-Word-Künstler Edwin Torres und Saul Williams ausklingt, ist, dass überproportional viele Veranstaltungen diesen beiden Tendenzen zuzuordnen sind, weshalb man so gut wie nie Gefahr läuft, eine Lesung zu besuchen, die kaum mehr ist als ein Appetizer für das jeweils käuflich zu erwerbende Druckerzeugnis.

Die visuellen Arbeiten werden dabei in verschiedenen Ausstellungen gezeigt – etwa im Instituto Cervantes, wo noch bis zum 21. August Werke des katalanischen Künstlers Joan Brossa zu sehen sind. Brossas Objektgedichte kommen völlig ohne Worte aus, etwa „Beschwörung“, das nur aus einer Scheibe Weißbrot und einer Stecknadel besteht.

Ein Schwerpunkt des Poesiefestivals liegt seit je in der Präsentation von Mischformen: Gedichte in Verbindung mit Tanz – dieses Jahr zu sehen im The Four Horsemen Project, in Kombination mit Musik oder Film.

Und so spannend eine intensive Auseinandersetzung mit solchen Hybriderscheinungen auch sein mag: immer läuft sie gleichzeitig ein klein wenig Gefahr, zu einer gewissen Beliebigkeit zu führen. Gerade die am Mittwoch gezeigten ZEBRA Poetry-Filme offenbarten dies, von denen einige so gewollt poetisch daherkamen, dass sie ins unfreiwillig Komische kippten.

Großartig hingegen war die Performance der Gruppe Reflexus aus Barcelona. Während der Dichter Jordi Teixido seine Verse auf Englisch vortrug „I have a watch / a watch to watch / the passing of time“, wurden seine Aktionen auf der Bühne von zwei Kameras auf eine Leinwand projiziert, wo Bild und Ton live geloopt, fragmentiert und geremixt wurden.

Sonette aus dem 13. Jahrhundert

Plötzlich sah man vier Jordis „drei virtuelle, einen echten“, die miteinander in Konkurrenz traten. Stimmen und Bilder begannen, einander zu überlagern, visuelle und akustische Effekte kamen hinzu.

Was den Auftritt von Reflexus zu einem so schönen Erlebnis machte, war, dass hier Form und Inhalt, die alte Dichotomie, tatsächlich eine Einheit bildeten. Während Jordi in Worten und Bewegungen den Verlauf der Zeit anhand eines Tagesablaufs exerzierte, dienten die Effekte mit ihren Verdoppelungen und Überlagerungen dazu, die Wiederkehr des Immergleichen zu versinnbildlichen und mit Jordis Geschichte zu kontrastieren.

Einen völlig anderen Weg, nämlich den der extremen formalen Selbstbeschränkung, beschritt indes Eugen Gomringer, der große alte Mann der Konkreten Poesie, der am Dienstagabend las. Was er vortrug, war ein sogenannter Sonettenkranz, eine bis ins 13. Jahrhundert zurückdatierbare Form, bestehend aus 14 Sonetten und einem Meistersonett, das sich aus dem jeweils ersten Vers der vorausgegangenen Sonette ergibt. „Es heißt, wir seien eines Ganzen Teile / es heißt, wir seien unteilbare Ganze“, las er. In seiner reduzierten, von kleinen Variationen durchzogenen Syntax gelang es Eugen Gomringer, sich die metrischen Beschränkungen des Sonetts vollkommen zu eigen zu machen. Ein schöner Moment war das, ganz ruhig und ohne jeglichen Bombast. ANDREAS RESCH