: Die Pest der ständigen Sekretäre
BIOGRAFIE Unbeugsam im Dienst der Anarchie: Nun ist die Geschichte des Errico Malatesta in einer Montage autobiografischer Texte zu lesen
VON RUDOLF WALTHER
Von den abenteuerlichen Leben, die viele europäische Anarchisten führten, ist dasjenige des Italieners Errico Malatesta (1853–1932) wahrscheinlich das abenteuerlichste. Von seinen 79 Lebensjahren verbrachte er 36 im Exil und obendrein zehn bis zwölf – Genaueres weiß man nicht – im Gefängnis. Malatesta hat keine Autobiografie hinterlassen, sondern die beiden Herausgeber Piero Brunello und Pietro Di Pola haben aus Briefen, Zeitungsartikeln und Notizen jene Passagen ausgewählt, die den Lebenslauf Malatestas abbilden.
Als 14-Jähriger erhielt der am 14. Dezember 1853 in Capua (Provinz Caserta) geborene Malatesta die erste polizeiliche Vorladung. Er hatte einen Brief an den König geschrieben und sich über die sozialen Zustände im Lande heftig beschwert. Drei Jahre später wurde er verhaftet, weil er an der Universität Neapel zum Vorlesungsboykott aufrief. Mit 19 Jahren war er der jüngste Teilnehmer am Kongress der antiautoritären Abspaltung der „Internationalen Arbeiter Assoziation“ in Saint-Imier in der Schweiz. Der Versuch, die Bauern in Apulien zum Aufstand aufzuwiegeln, endete 1874 mit einem Fiasko. Statt der 100 erwarteten Rebellen kamen nur sechs. Fünf wurden sofort verhaftet, Malatesta gelang die Flucht, aber er wurde kurz danach gefasst und mit Gefängnis bestraft. Ein weiterer Aufstandsversuch 1877 ging schief, weil „unsere Gewehre und unser Munition feucht geworden waren“. Um einer Bestrafung zu entgehen, floh Malatesta ins Ausland.
Die Flucht führte ihn über Ägypten, Argentinien, Uruguay, New York, Belgien, die Schweiz und Frankreich nach London. Ab 1889 arbeitete er mit Unterbrechungen bis 1913 hier – nach seinen eigenen Worten als „Schlosser, Mechaniker, Chemiker, Revolutionär, von allem ein wenig“. Er wollte nicht „von der Propaganda“ – also von der Politik – leben und lehnte „diese Pest der bezahlten und ständigen Sekretäre, der Berufsorganisatoren“ ab.
Nichts ist falscher als die Charakterisierung Malatestas durch den gebildeten Sozialisten Gaetano Salvemini, er sei der „Lenin Italiens“ gewesen. Als überzeugter Antiautoritärer schrieb er das Wort „Führer“ immer in Anführungszeichen und verbat sich Ehrungen zu seinem Geburtstag.
Nach seinem Verständnis des Anarchismus bestand dieser nicht in individuellen Anschlägen, sondern in kollektiver Aktion: „Entweder wir alle und die Arbeiter selbst überlegen, wie die Neuorganisation zu bewerkstelligen ist, und tun das bereits, während noch das Alte zerstört wird, (?) oder die ‚Führer‘ werden daran denken, und dann werden wir eine neue Regierung haben, die genau das tun wird, was alle Regierungen stets getan haben.“
Er hielt es für „fraglos zweckdienlicher nicht etwa die Person des Königs zu töten, sondern sämtliche Könige – die der Höfe, der Parlamente, der Betriebe – und zwar in den Herzen und Köpfen der Menschen, den Glauben also an das Prinzip der Autorität auszurotten“. Obwohl Malatesta und seine Freunde nur politische Niederlagen erlitten und ihre Zeitschriften und Zeitungen nur minimale Auflagen erzielten, blieb er zeitlebens „ein unverbesserlicher Optimist“ (Armando Borghi).
Immer wieder Flucht
Malatesta ließ sich nie auf Intrigen, Denunziationen und Spitzelaktivitäten ein, denen anarchistische Organisationen von innen wie von außen ausgesetzt waren seit den Anschlägen auf Staatsoberhäupter und Könige um die Jahrhundertwende. 1913 kehrte der 60-Jährige nach Italien zurück und beteiligte sich bei antimilitaristischen Demonstrationen, die sich landesweit ausdehnten, nachdem die Polizei zwei Demonstranten erschossen hatte. Noch einmal floh er nach London, von wo er erst 1919 mit großen revolutionären Hoffnungen zurückkehrte.
Sie wurden schnell obsolet. Faschistische Rollkommandos zerstörten die Infrastruktur der anarchistischen Zeitschrift Pensiero e Volontà in Mailand. Trotz Zensur konnte sie bis 1926 erscheinen. Mussolinis Polizei ließ Malatesta unbehelligt, kontrollierte aber sein Leben Tag und Nacht und zensierte seine Post.
Die gelungene Textmontage der beiden Herausgeber ergibt ein lebendiges Porträt des legendären politischen Nonkonformisten. In Erläuterungen werden Errico Malatestas Texte in ihren historischen Kontext gestellt – eine vorbildliche editorische Leistung.
■ Errico Malatesta: „Ungeschriebene Autobiografie. Erinnerungen (1853–1932)“. Hg. v. Piero Brunello und Pietro Di Paola. Aus dem Italienischen von Egon Günther. Nautilus Verlag, Hamburg 2009. 224 S., 16,90 Euro