Im Auge der Musik

NEW ORLEANS Die von Hurrikan „Katrina“ zerstörte Stadt und ihr Architekt des Funk, Allen Toussaint

Paul McCartney, Elvis Costello oder Robert Palmer griffen auf seine Talente zurück

VON DETLEF DIEDERICHSEN

Nichts symbolisiert die Lebenszugewandtheit der Stadt New Orleans so deutlich wie ihre Begräbniszüge: Unter Trauergesängen, Wehklagen und getragenen Bluesklängen wird der Verstorbene zur letzten Ruhestätte geleitet. Ist er aber erst mal unter der Erde, sind die Reden gehalten, setzen unvermittelt fröhlichste Partysounds ein. Der Tote ist nun an einem besseren Ort, hienieden geht das Leben weiter. Doppelte Freude.

Gelegen in tödlicher Umklammerung durch mehrere potenziell letale Gewässer – den Golf von Mexiko, den Lake Pontchartrain, den Mississippi und ein unkartografierbares Gewirr von Sümpfen –, brauchte New Orleans schon immer eine exzeptionell zähe und lebenshungrige Bevölkerung, um überhaupt seine Existenz sichern zu können. Die unter dem Meeresspiegel gelegene Stadt befand sich quasi zeit ihrer Existenz in einem permanenten Krieg gegen die Naturgewalten.

In seiner Existenz bedrohtes Biotop

Louisiana ist der ärmste Bundesstaat der USA und wird mitunter als Übergang zur weiter südlich beginnenden „dritten Welt“ interpretiert. New Orleans mag die bekannteste Stadt innerhalb dieses Staats gewesen sein, Hauptstadtehren wurden ihr nicht zuteil. So blieb ihr der Ruhm als Zentrum eines künstlerischen Projektionsortes – der wilde Süden –, ohne den weder etwa die fiebrig-quälerische Prosa eines William Faulkner noch die sehnsüchtig-nostalgische Musik von The Band denkbar wären – und eine einzigartige Musikszene, die über ein Jahrhundert lang dem Rest der USA entscheidende Impulse geben konnte. Man könnte vielleicht sogar sagen: Mit Jazz, R & B und Funk entstand hier die Musik der Vereinigten Staaten.

Dieses Biotop ist jetzt in seiner Existenz bedroht. Hurrikan „Katrina“ hat die Stadt 2005 so nachhaltig in die Knie gezwungen, dass sich Besuchern der Stadt heute der Schluss aufdrängt: Das war’s. In Zeiten immer heftigerer und häufigerer Tropenstürme ist eine Großstadt unter dem Meeresspiegel nicht mehr zu halten.

Die wenig vertrauenerweckend aussehenden neuen Deiche scheinen kaum in der Lage zu sein, es mit „Katrinas“ Töchtern aufzunehmen. Vom Geld für den Wiederaufbau profitierten vor allem die besseren Viertel – die schlechteren waren aber auch so gründlich zerstört, dass es nichts mehr wiederaufzubauen gab. Die besseren Gegenden sind nun aber von der Finanzkrise heimgesucht, so dass es dort auch etliche leer stehende und nicht zu Ende gebaute Anwesen gibt. Das höher gelegene und von „Katrina“ weitgehend verschonte legendäre French Quarter ist heute ein Fremdkörper in dieser Wüste der Depression und schafft es allein auch nicht mehr, die Touristenscharen in die Stadt zu locken, die vor „Katrina“ quasi zum Stadtbild gehörten und ein wichtiger Wirtschaftsfaktor waren.

Und die Musikszene? Kaum jemand symbolisiert diese besser als Allen Toussaint. In seiner langen Karriere hat der 71-Jährige aber nur ein halbes Dutzend Alben unter seinem eigenen Namen veröffentlicht. Er ist eher ein Mann für die Jobs hinter den Kulissen.

Als Studiomusiker, Songschreiber, Arrangeur und Produzent wurde er zu einem der wichtigsten Architekten des Funk und war auf die eine oder andere Art seit den Fünfzigerjahren an der Hälfte der prägenden Platten aus New Orleans beteiligt. Die Karrieren von Dr. John, Irma Thomas und Lee Dorsey sind ohne seinen Input kaum vorstellbar. Aber auch Weltgrößen der Popmusik wie Paul McCartney, Elvis Costello oder Robert Palmer griffen auf seine vielen Talente zurück.

Nur seine eigenen Platten schienen Toussaint nie so eine Herzensangelegenheit zu sein. Sie klangen eher nach Verlegenheitslösungen, etwa um die Zeit zwischen zwei Auftragsproduktionen zu füllen oder ein paar neue Songs zu demonstrieren. Das mag daran liegen, dass die Gabe zu singen eines der wenigen Talente ist, das ihm nicht gegeben wurde, so dass seine Songs meistens in den Versionen anderer Vokalisten überzeugender klingen. Ein weiterer Grund mag sein, dass er ein eher zurückhaltender, bescheidener Charakter ist und in einer Stadt, wo Konzerte extravagante Spektakel zu sein pflegen, sollten Entertainer extrovertierte Rampensäue sein.

Erst in den letzten Jahren hat sich Toussaints Haltung etwas geändert. Als Klimaflüchtling, der darauf wartet, dass sein von „Katrina“ zerstörtes Haus wieder aufgebaut wird, fand er heraus, dass es außerhalb von New Orleans durchaus eine Nachfrage nach ihm als Live-Performer gibt.

In seinem derzeitigen Übergangswohnort New York hat er eine monatliche Residency im Americana-Club Joe’s Pub. Und er geht plötzlich ambitioniert an seine Plattenveröffentlichungen heran. Das war bei der Zusammenarbeit mit Elvis Costello für das Album „The River In Reverse“ 2006 so, das ist jetzt bei „The Bright Mississippi“ nicht anders. Man hört sofort, dass es in dieser Musik um etwas geht, dass sie wichtig ist, dass Toussaint ein Anliegen hat.

Joe Henry, Produzent des Albums und alter Toussaint-Verehrer, beschreibt in den Liner Notes sehr anschaulich, wie dieses Album offensichtlich in Toussaint dringesteckt hatte, dass es raus musste, und wie er die dezenten Zeichen dafür entschlüsselte.

„The Bright Mississippi“ ist, kurz gesagt: der Abgesang auf New Orleans, ein wehmütiges, resigniertes, konsequentes Goodbye. Die Musik, eine sanftmütig-melancholische Aufbereitung von Blues und Standards wie „Dear Old Southland“, „St. James Infirmary“ oder „Just A Closer Walk With Thee“ zeigt, dass ihr Protagonist verstanden hat, dass selbst wenn noch für eine Weile eine Stadt namens New Orleans an jenem Platz stehen mag, an dem früher bereits ein Ort dieses Namens stand, sie doch nicht mehr seine Stadt ist.

Es lässt die Frage offen, ob diese Entwicklung nicht schon vor „Katrina“ begann und ob sie auch ohne die Naturkatastrophe genauso letal verlaufen wäre. Die Musikszene der Stadt hatten zuletzt Dirty-South-Rapper wie Master P, Juvenile oder Mystikal und Disney-Club-White-Trash wie die Spears-Schwestern dominiert. Die alten Legenden sahen zu, dass sie ihren Legendenstatus auf Festivals in Europa versilbern konnten. Die Clubs im French Quarter waren zu einer Mischung aus Museum und Altersheim herabgestiegen.

Krawatte mit Paisleymuster

Toussaint, dessen Krawatte auf dem Coverfoto natürlich das gleiche Paisleymuster trägt wie das Einstecktuch, erledigt diesen schweren Job mit demselben Gentleman-Understatement, das seine ganze Karriere prägte. Natürlich haben es seine Mitmusiker da schwer und gerade die, die einen großen Namen haben wie etwa der umtriebige Klarinettist Don Byron oder der eher durch wilde E-Gitarren-Eruptionen (etwa auf den Platten von Tom Waits) bekannt gewordene Marc Ribot, der hier nur akustische Gitarre spielt, haben dem wenig Relevantes hinzuzufügen.

Besser gelingt das dem Trompeter Nicholas Payton, selbst in New Orleans geboren, dem Saxofonisten Joshua Redman, der selten so zu einer Musik passte, wie hier zu Toussaints Version von Duke Ellingtons und Billy Strayhorns „Day Dream“. Erstaunlich auch, der eher für selbstgefällige Impressionismen und Virtuosismen bekannte Brad Mehldau, der einen exzellenten Stichwortgeber für Toussaint im Piano-Duett „Winin’ Boy Blues“ gibt.

Bei seinem Auftritt im Rahmen des New-Orleans-Schwerpunkts des Berliner Jazzfests 2006 überraschte Toussaint als wortreicher Erzähler von Geschichten aus der ruhmreichen Vergangenheit seiner Heimatstadt. „The Bright Mississippi“ knüpft daran an: Das Thema ist Geschichte, was jetzt zählt, ist Erinnerungskultur.

■ Allen Toussaint: „The Bright Mississippi“. Nonesuch/Warner