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Archiv-Artikel

Weniger MTV, mehr Werkhalle

Die Gewerkschaften fordern eine Rückbesinnung auf die industrielle Basis der Stadt. Ohne Produktion könne es auch keine Dienstleistungen geben. Nur mit einem solchen Mentalitätswechsel sei der wirtschaftliche Niedergang Berlins zu stoppen

VON RICHARD ROTHER

Im coolen Mitte, Kreuzberg oder Friedrichshain kann mit solchen Straßen- und Ortsnamen kaum jemand etwas anfangen: Nonnendammallee, Marienfelde, Müllerstraße, Oberlandstraße, Oberschöneweide, Glienicker Weg. Dabei stehen sie für Industrie-Unternehmen, die für Berlin – und damit auch für Werbe- und Internetagenturen, Klubs und Kneipen in der Innenstadt – enorm wichtig sind: Siemens in Charlottenburg, DaimlerChrysler in Marienfelde, Schering im Wedding, Gillette in Tempelhof, Samsung in Köpenick und Berlin Chemie in Adlershof etwa sind für eine Millionenstadt wenige, aber wichtige Kerne, die vom Niedergang der Berliner Industrie verschont geblieben sind.

Es sind industrielle Pflänzchen, die die Grundlage der Wirtschaft seien und deshalb gehegt und gepflegt werden müssten. Das jedenfalls fordern die Berliner Gewerkschaften: Sie wollen einen Mentalitätswechsel in der Politik und Bevölkerung erreichen. Weg von den Verheißungen, die Berlins Zukunft als so genannte Dienstleistungsmetropole sehen. „Wir brauchen eine andere Haltung in der Stadt“, sagt DGB-Chef Dieter Scholz. Und zwar bis in die Spitzen der Politik. Party und Glamour allein reichten nicht. IG-Metall-Chef Arno Hager wünscht sich gar ein 50-köpfiges Expertenteam, das Industrie-Unternehmen ansprechen und möglichst anlocken soll. Dafür müsse der Senat auch seine Sparpolitik überdenken, so Hager. „Mit EU-Fördermitteln kann man keine Industriepolitik machen.“

Der Struktur-Vergleich mit anderen bundesdeutschen Ballungsräumen gibt den Gewerkschaftern recht. Das jedenfalls ist das Ergebnis eines Gutachtens, das der Regionalplaner Sergei Goryanoff jetzt im Auftrag der Gewerkschaften verfasst hat. Titel: „Berliner Wirtschaft im Abseits – ohne Industrie keine Dienstleistung“. Der Grund sei banal: „Dienstleistung nährt keine Dienstleistung“, sagt Goryanoff. Dass die Zahl der Beschäftigten im Berliner Dienstleistungssektor gestiegen ist, führt Goryanoff auf Auslagerungen von Unternehmensteilen in den Niedriglohnsektor zurück, etwa im Wach- und Putzgewerbe.

In der Tat weisen wirtschaftlich erfolgreiche (Dienstleistungs-)Regionen einen höheren Anteil des verarbeitenden Gewerbes auf als Berlin. So beträgt dessen Anteil an der gesamten Bruttowertschöpfung in Berlin gerade mal 11 Prozent. In Hamburg und München sind es 16 Prozent, in Köln/Bonn 19 und in Stuttgart 34 Prozent. Je bedeutender das verarbeitende Gewerbe, umso größer auch der Dienstleistungsbereich, so Goryanoff.

Fehlt die materielle Basis, könne der Dienstleistungsbereich nicht wachsen – wenn man von Billigdienstleistungen absieht. Für Berlin analysiert Goryanoff eine regionale Deflation: Die Wirtschaftsleistung gehe bei sinkenden Preisen zurück. Zudem würden die regionale Binnennachfrage und die Investitionen der öffentlichen Hand sinken. Folge: steigende Arbeitslosigkeit.

Die industrielle Basis der Stadt müsse wieder stabilisiert werden, fordern Scholz und Hager. „Es war einer der schwersten Fehler der Berliner Politik und der Bundesrepublik nach der Wende, den Zusammenbruch der Industrie in der Stadt als unvermeidlichen Strukturwandel zu betrachten.“ Die Industrie sei abgeschrieben, und dies sei noch als Modernität dargestellt worden. „Damit muss Schluss sein.“