JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE : Worte zum harmonischen Geläut
Es wurde doch auch Zeit: Endlich mal eine Glockengeschichte aus dem Rupertiwinkel!
Wo ich daheim bin, in Palling, da hängt im Kirchturm eine Glocke, die hat seit 57 Jahren kaum mehr geläutet. Angesichts solch erzener Untätigkeit in Zeiten, da sich diese Gesellschaft so eine floridarolfmäßige Bummelmentalität nicht mehr leisten … etc. pp., muss die Frage erlaubt sein, ob die Faule trotzdem zusammen mit den anderen Glocken nach Rom fliegen darf, jetzt dann wieder vor Ostern. In den eineinhalb Tagen der Grabruhe von Gründonnerstagabend bis Karsamstagmittag gibt es beim Katholiken kein Glockengeläut, sondern ersatzweise das Geklapper der hölzernen Karfreitagsratschen. Und zwar ist das so – also: das kriegt man als Kind so erzählt, dann wird’s ja wohl so sein –, weil die Glocken am Donnerstagabend nach Rom fliegen (freilich heißt das auf Bairisch „auf Rom“ und nicht „nach“; ich hab das jetzt mal angeglichen.) Ob das ein Muss oder ein Darf ist für die Glocken, weiß ich gar nicht.
Die kleine Glocke ist die Letzte einer glanzvollen Truppe. Als die alten Pallinger Anfang der 1870er-Jahre unsere Kirche bauten, ließen sie sich nicht lumpen und gaben für den Turm ein harmonisches Geläut in Auftrag, also ein Glockenensemble mit speziell in/aufeinander abgestimmtem Klang. So schön hat das Pallinger Geläut geläutet, dass sich die Vogl Hanni, meine Urgroßmutter, nach einem Jahr als Dirn beim Wirt in Weißenkirchen wieder eine Stelle in Palling suchte, weil sie so Zeitlang (also eine Sehnsucht) nach der Glockenmusik hatte.
Zehn Jahre später tobte der Erste Weltkrieg auf den Höhepunkt zu, die Front gierte nach Metall und die Gemeinden mussten per Regierungsbeschluss ihre Kirchenglocken zum Einschmelzen abgeben, nur die jeweils größte Glocke durften sie im Turm behalten. In letzter Minute taten die Pallinger eine Klausel in dem Befehl auf, nach der harmonische Geläute nicht auseinander zu reißen und folglich komplett zu verschonen waren. Die Pallinger Glocken, bereits vom Turm genommen, blieben da und wurden 1918 wieder aufgezogen. Noch 24 Jahre läuteten sie in schönster Harmonie, dann kam 1942, Stalingrad, ein neuer Einschmelzbefehl. Und die Nazis hatten auch nichts mit schützenswertem Wohlklang zu schaffen: Nur die kleinste Glocke durfte bleiben, mit dem Rest des harmonischen Geläuts aus Palling wurden Menschen totgeschossen.
Schon drei Jahre nach dem Krieg hatten die Pallinger das Geld für neue Glocken (etwas Preisgünstigeres, sagen wir: Semiharmonisches) zusammen. Als die Schönen 1948 von der Gießerei kamen und vom Bahnhof zu holen waren, fragte man den Michl-Bauer, ob er seine schweren Zugpferde für das Fuhrwerk herleihen würde, was der, ganz knickeriger Ökonom, brüsk ablehnte: „Ich brauch keine Glocken“, soll er geschimpft haben. Und jetzt pass auf: Wie der Michl gestorben ist, Jahre später, war das mitten in der Karwoche, sodass seine Beerdigung auf den Karfreitag fiel. Keine Glocke hat geläutet bei dem Gottesdienst; zum Geschepper der Karfreitagsratschen haben sie den Michl ans Grab getragen.
Die Vogl Hanni, damals schon lange die Binder Hanni, war bereits 1943 gestorben – pfeilgrad auch mitten in der Karwoche, ihre Beerdigung wurde aber für den Karsamstagnachmittag angesetzt. Von ihren geliebten Pallinger Glocken war seit letztem Jahr zwar nur noch die Kleinste übrig, aber die war nun gerade rechtzeitig aus Rom zurückgekommen, um ihrem lebenslangen großen Fan das letzte Geläut zu geben.
Was um Himmels Willen hab ich jetzt gelernt? Unter Umständen, dass es schöner ist, dem Schönen zugetan zu bleiben und dass von „Geiz ist geil“ am Schluss nur ein hässlicher Lärm überbleibt. Dazu ein Hoch auf den Müßiggang! Das neue Glockenensemble von 1948 wird mit Elektroantrieb geläutet und seit 57 Jahren hängt die kleine alte Glocke stumm daneben, die einzige, die noch ein Glockenseil hat, damit in Katastrophen-, Not- und Stromausfällen was zum Läuten da ist. Davon gab es seither dankenswerterweise kaum welche, die 130-Jährige verharrt in ehern-gepflegter Trägheit. Der Urlaub sei ihr wirklich gegönnt.
Fragen zu Glocken? kolumne@taz.de Morgen: Kirsten Fuchs über KLEIDER