: Geldgirls und Einschusslöcher
Frieren wie die Armen: Im Berliner Trendbezirk Mitte experimentiert die junge Avantgarde noch immer mit subproletarischen Versatzstücken. Ein Winterspaziergang
Auch in Mitte ist es kalt. Ich dachte, die Straßen hätten dort längst überall Fußbodenheizung, damit man warmen Fußes in die Delikatessgeschäfte gelangt, doch Reality Feeling ist scheinbar weiter schwer im Trend, in diesem Fall „Frieren wie die Armen“. Das ist echt cool, da ist man voll dabei. Hier experimentiert die junge Avantgarde ja seit je gerne mit subproletarischen Versatzstücken, seien es modische Accessoires aus dem Pennermilieu, die Gestaltung mancher Tanzgaststätte oder das Benehmen. In München oder Hamburg läuft das anders – nur der Geiz eint sie alle. Letztens schnappte ich die Klage eines hanseatischen Geldwichtes auf, in dessen neu entdeckter Billigvideothek leider ständig „solche Hartz-IV-Leute“ rumliefen – das sei natürlich der Nachteil an den Preisen. „Solche Hartz-IV-Leute“: In Berlin hätte das den hippen Store doch bloß aufgewertet, in dem man beim Tape-Checken auch noch echte Loser spotten kann.
Am Eingang zu den Hackeschen Höfen bietet ein Brezelmann Brezeln an. Er pflegt eine offensive Verkaufsstrategie und reagiert zunehmend unwirsch auf Nichtkäufer: Ich-AGs sind im Grunde auch nur verkappte Hartz-IV-Leute und die sind einfach nicht relaxed – das erlebt man leider öfter.
Durchs Schaufenster von Krösus-Spachtel sehe ich ein Geldgirl mit roter Triefnase – sicher kauft sie gerade Limonen ein, für heiße Caipirinha. Draußen schlittern Mittemenschen haltlos über glatte Gehwege. Sie müssen sich beeilen mit ihren Luxuseinkäufen, denn in der Nacht, so wird gemunkelt, kommen die Hartz-IV-Leute aus ihren Löchern und schleppen alles weg. Rund um den Hackeschen Markt liegt ein Spezialitätenimbiss neben dem anderen, alle mit englischer Karte – „Soup’s, Baguette’s, Sandwich’s – und falschem Apostroph. Das ist wohl wieder so ein augenzwinkerndes Versatzstück: Arizona-Truck-Stop meets Bude in der Uckermark. Dafür schön teuer, und wer möchte, bekommt auch eine Käsestulle, die Bagel heißt, oder rohen Fisch.
Die größte und hellste Fensterfront gehört zu einem Möbelladen, der in dieser Umgebung reichlich fremd wirkt. Drinnen sitzen junge Leute auf spießigen Sesseln Probe. Ich gucke dort immer total gerne rein. Die Mittemenschen wirken zunächst entspannt. Nach zehn Minuten haben sie mich dann entdeckt und schauen grimmig zu mir raus. Vielleicht würde es länger dauern, wenn ich stillhalten würde, aber ich muss immerzu lachen: Die sehen nämlich absolut nicht nach typischen Möbelkunden aus – das wirkt schon komisch. Daniela hat mal behauptet, das wäre eine Starbuck’s-Filiale und die Leute tränken dort Kaffee, aber das glaube ich nicht. Mit der Zeit werden die Blicke böser und ich gehe weg.
Im gesamten Straßenbild wimmelt es vor neckischen Verweisen auf Partnergemeinden von Bayreuth bis Beirut, finden sich Dackel in Lodenmänteln unter Einschusslöchern in den Wänden. Zum ersten Mal fällt mir heute auch das „Kunst und Curry“ auf. Der deutsche Name deutet entweder auf rechtsradikales Gedankengut hin oder ironisch gebrochene Versatzstücke postgermanischer Brauchtumspflege. Sonst spricht hier ja jeder, der etwas auf sich hält, Spanisch, und sei es mit schwäbischem Akzent. In einer Ecke des Lokals ein Bretterverschlag, der den dahinter stehenden Champagner vor dem Zugriff der Hartz-IV-Leute schützt. Während ich auf meine Riesencurry warte, betrachte ich die Wände. Jemand hat Bilder gemalt und dorthin gehängt. Nicht schön, aber originell. Ohne verspieltes Querzitat verkauft sich in Mitte offenbar noch nicht mal eine Currywurst.
Die schmeckt dann immerhin ganz ordentlich. Dazu lese ich die Zeitung, bis sie an der unpraktischen Kerze auf dem Tisch Feuer fängt. Das sieht bestimmt trottelig aus, wie ich erst panisch damit herumwedle, um sie anschließend auf den Boden zu schmeißen und darauf herumzutrampeln. „Was tut man nicht alles, damit einem warm wird“, scherze ich verlegen. Kunst und Curry kann sich da kein Lachen abringen, noch nicht mal ein Versatzstück. ULI HANNEMANN