Heldenhafte Dummheiten

Auf der Suche nach dem Genie im Ingenieur: Werner Herzogs Monumentaldokumentarfilm „The White Diamond“ folgt einem Zeppelinbauer in den Dschungel von Guyana. Ein heroischer Ausflug zu den Grenzen der Peinlichkeit – und darüber hinaus

VON DIETMAR KAMMERER

In Werner Herzogs neuem Ausflug in die Dichte des Regenwalds wird wieder ein Schiff durch den Dschungel getragen, diesmal allerdings ein Luftschiff. In seine Einzelteile zerlegt, sind das mehrere Kisten mit Gestänge, Motoren, Hülle, Elektronik plus einige Dutzend Heliumflaschen. Zusammengesetzt wird daraus ein Zeppelin, ein kleiner zwar, aber dahinter steckt, wie so oft bei Herzog, ein großer Traum, oder besser, denn drunter geht’s hier nicht: die allergrößte „Vision“. So geht es meistens zu im Herzog’schen Kosmos: Etwas ist menschliche Leistung, technische Anstrengung, großes Aufbäumen und kann, in seine Einzelteile von Mittel und Zweck zerlegt, durchaus wie ein rationales Unternehmen aussehen, und wenn es dann fertig gebaut ist und vom Boden abhebt, hat man es plötzlich mit etwas ganz anderem zu tun, nämlich mit dem Blick von oben, mit dem Sieg über die Schwerkraft des Gewöhnlichen, mit dem Wunderbaren und dem Unerhörten.

Bei der Entwicklung seines heliumgetriebenen Miniaturzeppelins ging es dem Ingenieur Dorrington jedenfalls nicht um die „Eroberung des Nutzlosen“, sondern erst einmal um viele Jahre Kopfzerbrechen, Reißbrettentwürfe, Testläufe im Windkanal. In Betrieb genommen, soll das fragile Fluggerät bei der Erforschung der Baumkronen des Regenwaldes helfen, des, wie es heißt, größten und artenreichsten Bioreservats des Planeten. Da, wo der fußangetriebene und flügellose Mensch normalerweise nicht hinkommt und wo sich Biologen und Pharmazeuten zahlreiche noch unentdeckte Pflanzen und Lebewesen erhoffen. Ein Vorhaben aus dem Geist der praktischen Vernunft, und dennoch, wie könnte es anders sein, zugleich ein vollkommen wahnwitziger Plan. Denn schief gehen kann alles, und natürlich interessiert sich Herzog genau für diese rutschige Seite, den Abhang des ganzen Vorhabens, für das „Genie“ in „Ingenieur“.

Der Film beginnt seltsam, wie eine Vormittagssendung der Flugzeugindustrie, mit Archivaufnahmen aus schwarzweißen Pioniertagen der Luftfahrt, dazu Werner Herzogs bemühter Kommentar, eine biedere Abschweifung über den „uralten Traum vom Fliegen“ und die selbstverständlich „kühnen Luftfahrer“. Man macht sich auf einiges gefasst und schaltet auf Durchzug, auch noch, als die Szenen in die Erfinderwerkstatt des Ingenieurs Dorrington wechseln, der allerlei technisches Gerät vorführt und kaum zum Atmen kommt vor erklärungswütiger Aufregung. Nebenbei erfahren wir, dass er sich mit 14 Jahren drei Finger seiner linken Hand weggesprengt hat, als er Astronaut werden wollte.

Plötzlich hat der wackre Zeppelinbauer eine Art metallen schimmerndes James-Bond-Fluggerät auf den Rücken geschnallt und strahlt in die Kamera: „Du kannst deine Träume verwirklichen! Let’s go fly!“, reißt die Arme nach oben und setzt ein irres Grinsen auf. Für einen Moment steht die Möglichkeit im Raum, er könnte sich jetzt tatsächlich vor laufender Kamera in die Luft jagen. Das passiert nicht, sondern was viel Besseres: Bekehrung, Läuterung, Einsicht. Von da an will man, es sei hier gestanden, von diesem Film keine Sekunde mehr verpassen. Eine so gewaltige Masse an Enthusiasmus steckt in diesem verspäteten Luftfahrtpionier, die schiere Schubkraft, dass man ihm gerne überall hin folgt, in den Dschungel von Guyana sowieso.

Dort fügt sich alles zusammen: der Zeppelin, der, wenn er am Himmel dicht über dem Kronendach des Tropenwaldes schwebt, in der Tat an einen weißen Diamanten erinnert; die Passion von Dorrington, der dieses Projekt seinem besten Freund widmet, einem Dokumentarfilmer, der vor elf Jahren unglücklich zu Tode kam, als er aus dem Vorgängermodell des Luftschiffes stürzte; und der Film selbst, der längst kein Dokumentarfilm mehr ist, sondern ein Monumentalfilm, etwas, das von so heroischen Taten und Schicksalen berichtet, dass mit Bildern dazu eigentlich immer nur zu wenig gesagt werden kann. Die sind von zerbrechlicher Schönheit: wie der Flug von zwei Sektgläsern an Luftballonen, die über einem mehr als 200 Meter hohen Wasserfall schweben, bevor dessen Luftströmung sie in die Tiefe reißt. „Ein Opfer an die Götter des Flusses“, sagt Herzog, und ein nüchterner Test der Wirbelverhältnisse über der Kante des Wasserfalls. Es gibt dämliche Dummheiten und es gibt heldenhafte Dummheiten, erläutert der Zeppelin-Bastler. Keine Frage, für welche der beiden Herzog sich begeistert, welchen er das Denkmal setzen will. Wie er sich dabei völlig ungerührt an der Grenze zur Peinlichkeit und darüber hinaus bewegt und einen in den besten Momenten dennoch sprachlos lässt, dazu fällt einem beim Verlassen des Kinos nur noch ein Wort ein: knüppeldick.