Eine große Szene mit Lydia

„Spiel von Liebe und Zufall“ von Marivaux und der Alltag in den Pariser Banlieues: In seinem Film „L’esquive“ verbindet Abdellatif Kechiche zwei Welten, die kaum miteinander vermittelbar sind

VON BERT REBHANDL

Der Spielplatz zwischen den Wohnbauten öffnet sich zu einem kleinen Amphitheater. Obstkisten dienen als Bauten. Lydia trägt ein Kleid wie aus den Zeiten vor der Revolution. Stolz geht sie durch ihr Quartier, eine typische Gegend in den Pariser Banlieues. Die Jungs stellen sich vor, wie das Mädchen ohne Kleid aussehen könnte. Sie ist „ganz flach“. Nichts für sie. Der stille Krimo aber ist schon verliebt. Er hat Lydia dabei beobachtet, wie sie das Kleid abgeholt hat bei einem Asiaten, der in seiner Wohnung eine Schneiderei betreibt. Es handelt sich um ein Kostüm für eine Theateraufführung. Lydia trägt es wie eine Auszeichnung, von der Krimo etwas abbekommen möchte.

Abdellatif Kechiche verbindet in seinem Film „L’esquive“ zwei Welten, die auf den ersten Blick kaum miteinander vermittelbar sind: den Alltag in den Pariser Banlieues und das „Spiel von Liebe und Zufall“ von Marivaux. Er begreift sie als zwei Regelsysteme, aus deren Synthese eine Vorstellung von der französischen Gegenwart entsteht. Kechiche ist ein Sozialrealist, der die symbolische Ebene mitbedenkt. „L’esquive“ ist nicht nur deswegen ein außergewöhnlicher Film – überraschend, aber völlig zu Recht wurde er vor zwei Wochen bei der Vergabe der französischen Filmpreise, der Césars, mit den Hauptpreisen bedacht.

Krimo (Osman Elkharraz) und Lydia (Sara Forestier) kennen einander aus der Schule. Am Nachmittag hängen sie mit den eigenen Leuten ab. Die Jungs und die Mädchen bilden jeweils eine Gruppe. Das Theaterprojekt, das eine engagierte Lehrerin begonnen hat, begründet neue Mischungen. Ein Freund von Krimo spielt den Harlekin. Er hat einen großen Dialog mit Lydia, an dem gerade geprobt wird. Krimo wählt den direktesten Umweg, um Lydia näher zu kommen: Er überredet seinen Freund, ihm die Rolle des Harlekins abzutreten. Nun hat er plötzlich, wozu er sich selbst kaum in der Lage sieht – eine große Szene mit Lydia, eine Begegnung, die zwar öffentlich ist, denn die ganze Klasse sieht bei den Proben zu, aber doch auch intim, denn sie spielen eine Rolle.

Von dieser (Un-)Möglichkeit, in eine andere, symbolische Praxis auszuweichen, handelt „L’esquive“ (der Titel spielt auf die Ausweichmanöver beim Boxen oder Fechten an). Geschlecht und Kultur konstituieren dabei wichtige Differenzen. Für die Jungs ist das Schauspiel eine „schwule“, also unmännliche Angelegenheit. Krimo entscheidet sich gegen die „Hardcore-Pornos mit karibischen Schönheiten“. Lydia ist das einzige weiße Mädchen unter maghrebinischen Freundinnen. Sie übergeht diesen Unterschied, indem sie ständig „Inschallah“ sagt. Aber sie betont ihn, indem sie ihr Kleid betont häufig trägt.

Krimo begreift gerade so viel, dass er ihr in dieses Rollenspiel folgen könnte. Aber er hat überhaupt kein Talent zum Spiel. In einer schmerzhaft intensiven Probenszene verliert die Lehrerin allmählich die Geduld mit ihm, dem tumben Harlekin, der seine Sätze kaum hörbar murmelt: „Amuse-toi“ ist die einzige, verzweifelte Regieanweisung. Sie nützt natürlich nichts, denn Krimo „spielt“ ja gerade, weil er sich schwer tut, sich zu amüsieren.

Lydia räumt ihm dann sogar noch das Privileg einer privaten Probe ein – entsprechend der sozialen Logik der Banlieues findet diese an einem öffentlichen Ort statt, eben jenem kleinen Amphitheater, an dem sich die Mädchen gewöhnlich treffen. Krimo fällt hier aus der Rolle. Er begeht einen Übertritt, der seine Liebesgeschichte öffentlich macht. Die Jungs mischen sich ein, es gibt Missverständnisse, eine Freundin von Lydia, die im Stück die zweite Hauptrolle hat, wird attackiert. Die Affäre zieht Kreise, und Abdellatif Kechiche (in seinem zweiten Spielfilm nach „Voltaire ist schuld“) hat Gelegenheit, mit seiner „teilnehmenden“ Kamera das Leben in den Banlieues zu erforschen.

Er hört genau hin auf die Sprache (die deutschen Untertitel geben unfreiwillig einen Eindruck von den Schwierigkeiten der Übersetzung), er beobachtet die Solidarität innerhalb der Geschlechter und die Schwierigkeiten des Ausbruchs aus der Gruppe. Inmitten dieses Soziallebens bleibt das Rätsel von Krimo ungelöst: Seine Introvertiertheit ist ebenso sehr Kultur wie Charakter. Das „Spiel von Liebe und Zufall“, das die Lehrerin zur Erprobung anderer sozialer Rollen angesetzt hat (Diener spielen Herren und umgekehrt), wird für ihn zur Falle. „L’esquive“ sucht nicht nach der Tragödie in der Komödie, sondern vermittelt diese Formen perfekt in einem aufgeklärten Realismus.