: „Passport war ein Synonym für Korruption“, sagt Valentin Groebner
Das Visa-Paradox: Strikte staatliche Kontrolle führt zu Privatisierung. Seit es Reisedokumente gibt, werden sie gefälscht
taz: Herr Groebner, im vorigen Jahr haben Sie ein Buch über das Passwesen veröffentlicht. Bereits auf der ersten Seite erwähnen Sie die Reiseschutzpässe aus Kiew. Haben Sie prophetische Fähigkeiten?
Valentin Groebner: Keineswegs. Ich habe damals einfach nur Zeitung gelesen. Die Fakten waren ja allgemein bekannt. Man kann sich schon fragen, warum es jetzt eine große Aufregung gibt und nicht schon im vorigen Jahr.
Warum denn?
Offenbar hat sich das Gefühl einer Bedrohung in der Zwischenzeit verstärkt. Als Außenstehender beobachte ich in den letzten Jahren eine zunehmende Hysterisierung politischer Debatten in Deutschland. Vordergründig geht es um Wohlstand, Migration, Aufrechterhaltung von Grenzen. Dahinter steht offenbar die Angst, die Kontrolle zu verlieren – „losing control“, wie es die amerikanische Soziologin Saskia Sassen formuliert hat.
Welche Rolle spielt dabei das Visum?
Das Versprechen auf Kontrolle wird in der aktuellen Debatte am magischen Dokument Reisepass festgemacht. Hinzu kommt, dass es für die diffusen Ängste jetzt ein Bild gibt: die Schlange vor der Visastelle in Kiew.
Warum konzentriert sich die Debatte auf Joschka Fischer?
Ihm wird eine Rolle zugeschrieben, die historisch sehr alt ist: die Figur des Verräters, der das Tor aufmacht und unsichtbare Feinde in ein ummauertes Gemeinwesen hereinlässt. Dieses Denken in den Kategorien von außen und innen folgt ziemlich archaischen Mustern, scheint mir.
Was ist so falsch an dem Bedürfnis nach Kontrolle?
Dass es in der Praxis nie wirklich funktioniert hat. Während der großen Wanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts sind zum Beispiel viele Millionen Menschen ohne gültige Papiere unterwegs gewesen. Die Vorstellung, dass die Leute früher auf ihrem Bauernhof saßen und sich nicht rührten, ist einfach Unfug.
Sind die Überwachungsmöglichkeiten heute nicht besser?
Schauen Sie sich die Migrationsrealität doch an, in Europa oder auch an der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Einwanderung und Auswanderung sind eine historische Konstante. Wenn die Staaten ihre Grenzen allzu dicht machen, dann bieten eben andere Agenturen ihre Dienstleistungen an. Auch wenn das nicht immer appetitlich ist.
Sie meinen Schleuser?
Ja, das ist eben das Paradoxe. Strikte staatliche Kontrolle führt zu Privatisierung – dem Gegenteil von Kontrolle. Für mein Buch habe ich mit Schweizer Polizisten gesprochen, die einen neuen Reisepass entwickelten. Sie haben gesagt: Gefälscht wird immer. Unsere Aufgabe ist es, die Fälschung des Schweizer Passes so aufwändig und teuer wie möglich zu machen.
Das Recht auf Mobilität ist nur eine Frage des Geldes?
Das ist nichts Neues. Im 17. und 18. Jahrhundert brauchte man für jede Reise von ein paar Kilometern mehrere Papiere. Das war immer mit Bestechungsgeldern verbunden. Das Wort Passport wurde als ein Synonym für Korruption verwendet.
Plädieren Sie dafür, den Passzwang lieber abzuschaffen?
Das gab es ja schon mal. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben das alle europäischen Länder getan, mit Ausnahme von Russland. Man konnte überall ohne Papiere reisen. Aber auch davon profitierten nur Reisende mit Geld. Arme Leute brauchten trotzdem Papiere, um zu beweisen, dass sie keine Bettler sind. Die soziale Differenzierung zwischen Arm und Reich ist in die Geschichte der Pässe fest eingeschrieben.
Aber der moderne Pass ist doch für alle gleich?
Nur scheinbar. In jedem dieser Dokumente steht zwar: Dieser Pass ist gültig für alle Staaten der Welt, aber das soll nur für uns selbst gelten, nicht für die anderen. Ein ukrainischer oder nigerianischer Pass ist de facto etwas sehr anderes als ein schweizerischer, österreichischer oder deutscher Pass. Hinzu kommt: Ganz vielen Menschen werden die Pässe ja gerade entzogen, sie werden zu Illegalen gemacht.
Wie das?
Zum ersten Mal passiert das 1553 in der Reichspolizeiordnung anhand der Zigeuner. Da wird gesagt: Sie sind so betrügerisch, dass ihre Dokumente nur gefälscht sein können – egal welche Pässe sie auch vorweisen. Die Obrigkeit weigert sich, die eigenen Dokumente zu erkennen. Es geht nicht darum, alle zu identifizieren, sondern eine Kategorie von Unidentifizierbaren zu schaffen, die immer schon illegal sind.
Wir leben aber nicht mehr im 16. Jahrhundert, oder?
Illegale und Papierlose gibt es auch heute noch zuhauf. Das neue deutsche Zuwanderungsgesetz formuliert zwar sehr strikt: Ohne feste Zusage für eine legale Arbeitsstelle darf kein Ausländer kommen. Doch damit wird nur eine Fiktion aufrechterhalten, als ob es den illegalen Arbeitsmarkt nicht gäbe. Andere europäische Länder gehen mit der Realität pragmatischer um.
Darf ich zusammenfassen: Alles ist schon mal da gewesen, wozu die ganze Aufregung?
So würde ich das nicht sagen. Offenbar ist es nicht ganz gleichgültig, aus welchem Land diese vermeintliche Flut von Illegalen kommt. Auch an anderen Botschaften hat es Unregelmäßigkeiten gegeben, virulent geworden ist der Skandal aber in Bezug auf die Ukraine. National beunruhigend wird es offenbar erst, wenn es um den Osten geht.
INTERVIEW: RALPH BOLLMANN