LIBANON: DIE PRO-SYRER MÜSSEN ERNST GENOMMEN WERDEN
: Mehrheiten, die uns nicht passen

Wenn über Demonstrationen in der arabischen Welt berichtet wird, ist immer wieder ein Standardsatz zu lesen: Die Teilnehmer wurden mit Bussen herangekarrt. Das mag an vielen Orten stimmen, aber mehrere hunderttausend Jubelaraber befördert auch der syrische Präsident Assad nicht in ein paar Tagen zu den prosyrischen Demonstrationen, die überall im Libanon abgehalten werden. Vielmehr transportiert dieser Satz das Vorurteil, die arabischen Regime hätten keine Mehrheiten, auf die sie bauen können, sondern nur bezahlte Beifallklatscher. Die gängige Annahme lautet, dass die autoritären Regierungen sich durch eine perfide Mischung aus Gewalt, staatlicher Indoktrination und Korruption an der Macht halten. Dass es durchaus Mehrheiten für den Status quo gibt, wird dagegen ausgeblendet. Die Demonstration der Hisbollah-Anhänger beweist das Gegenteil.

Nötig ist deswegen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Interessen der Pro-Assad-, Pro-Mubarak- oder Pro-Saddam-Streiter und nicht, sie als irrational oder ferngesteuert abzustempeln. Die Stagnation, die wir in der Region sehen, ist nicht das Ergebnis einer ohnmächtigen Gesellschaft gegen einen übermächtigen Staat, sondern resultiert aus den Interessen gesellschaftlicher Mehrheiten. In Beirut geht eine Mehrheit für Baschar al-Assad auf die Straße; in Marokko demonstrierte eine Mehrheit gegen eine Verbesserung der Frauenrechte. Diese Dynamik unter der Oberfläche dürfen wir nicht ausblenden. Die politischen Ziele diese Leute mögen uns unsympathisch sein, aber ihre Anhänger sind zahlreich. Daher müssen die Vertreter dieser Mehrheiten Ansprechpartner für uns sein. Das gilt auch für die Hisbollah.

Die US-Administration mag die antisyrischen Kundgebungen als einen Erfolg ihrer Politik in der Region feiern. Wenn sie aber nicht anerkennt, was die Mehrheit denkt, kann diese Politik nur scheitern. „Der Libanon ist weder Somalia noch die Ukraine oder Georgien“, ruft Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah seinen Anhängern zu. Will heißen, der Libanon ist weder ein Staat ohne Staat, noch stellen die Anhänger der von den Amerikanern so getauften „Zedernrevolution“ eine Mehrheit ähnlich wie in der Ukraine oder in Georgien. SONJA HEGASY