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Archiv-Artikel

Merkels Mantra, Clements Credo

Der Staat hat nichts mehr zu verschenken. Die Steuern für Unternehmen zu senken, wäre nur noch durch ein indiskutabel niedriges Angebot öffentlicher Leistungen zu erkaufen

Von einem rauen sozialen Klima bleiben auch scheinbar Begünstigte nicht verschont

Von der gegenwärtigen neuen Debatte über Steuersenkungen für Unternehmen ist weder Gutes noch Schlimmes zu erwarten. Zwar sind sich Wolfgang Clement von der SPD und Angela Merkel von der CDU einig: deutsche Unternehmen zahlen viel zu viel Steuern. Und ein Absenken davon setzt ihrer Meinung nach diese wundersame Spirale höheren Wachstums und niedrigerer Arbeitslosigkeit in Gang.

Was jedoch vor einigen Jahren noch ein brandgefährlicher Feuersturm gewesen ist, der viel an öffentlichen Leistungen in Flammen aufgehen ließ, dürfte diesmal mangels verbleibender Masse vor allem Rauch und Ruß bedeuten. Denn Deutschland hat nichts mehr zum Verschenken. Die öffentlichen Kassen sind so ausgeplündert, dass die Bürger eine weitere Senkungsorgie als das erkennen werden, was sie ist: ein dummer Selbstbetrug, der mit einem nur noch indiskutabel niedrigen Niveau an öffentlichen Leistungen erkauft wird.

Schauen wir auf die internationalen Zahlen, auch wenn Spitzenpolitiker glauben, auf diese Informationen verzichten zu können. Merkels Mantra ist: in Deutschland herrscht eine überbordende Bürokratie, ein weiterer Staatsabbau soll deshalb das Gebot der Stunde sein.

Das ist ein Irrtum. In der neuesten OECD-Einnahmestatistik von Ende letzten Jahres weist Deutschland für das letztvorliegende Jahr 2002 Einkünfte aus Steuern und Sozialversicherungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 36 Prozent aus. Bei den langjährigen Mitgliedern der Europäischen Union sind es dagegen im Durchschnitt 40,6 Prozent. Und auch bei Berücksichtigung der neuen Beitrittsländer verändert sich diese Gesamtmarge kaum.

In Deutschland gibt es also im europäischen Vergleich bereits einen nicht nur schlank, sondern eher schon abgemagert zu nennenden Staat. Und das ist ein Problem. Denn wo wenig Einnahmen, da auch geringere Ausgaben. Wir haben einen so geschrumpften Staatsumfang, dass wir etwa auch bei den langfristig so wichtigen Bildungsausgaben seit langem unter dem europäischen Durchschnitt liegen. In nicht mehr allzu ferner Zeit werden die Ökonomen detailliert berechnen können, wie viel Wachstumsverlust alleine diese Bildungsvernachlässigung der letzten zwei Dekaden mit sich gebracht hat.

Aber wenigstens bei dem Unterposten der Unternehmensteuern wären Senkungen angebracht? So zumindest Clemens Credo. Aber auch das ist falsch. Noch gerade ein lumpiges Prozent des Bruttoinlandsprodukts holen wir nach der unseligen Steuerreform von 2002 hier herein. Früher war das viel mehr, 1965 zum Beispiel, zu Ludwig Ehrhards Zeiten, gut das Zweieinhalbfache. Dieser drastische Einnahmeabfall hat mit Globalisierung gar nichts zu tun. Denn, oh Wunder, im EU-Durchschnitt sind es auch heute noch über drei Prozent! Jeder Prozentpunkt Differenz macht hier übrigens gut 20 Milliarden Euro aus. Viele Milliarden mangelnde staatliche Einnahmen aus Unternehmensteuern, die bei der Bildung fehlen, bei der sozialen Absicherung, für eine aktive Arbeitsmarktpolitik.

Deutschland hat jetzt unter allen knapp dreißig OECD-Ländern die relativ niedrigsten Einnahmen aus Unternehmensteuern für Kapitalgesellschaften (nur diese lassen sich international vergleichen). Das dürfte auch für die in der Wirtschafts- und Finanzkompetenz ihrer Parteien Kummer gewöhnten rot-grünen Wähler irritierend sein. Vor allem, wenn gleichzeitig in den Bilanzpressekonferenzen dauernd neue Gewinnhöchststände von den Vorständen vieler Konzerne verkündet werden.

Weitere Steuersenkungen drangsalieren nicht nur die öffentlichen Kassen. Sie gefährden auch ganz direkt die Gesundheit, Optimismus und Lebenszufriedenheit ihrer Bürger. Zur gleichen Zeit, wo man sich eine weitere Steuersenkungsdebatte leistet, muss das Kabinett den zweiten Armuts- und Reichtumsbericht beraten. Und darin wird eine weitere Zunahme der Ungleichheit in Einkommen und Vermögen konstatiert.

Das politische Berlin und die öffentliche Diskussion haben sich hier auf die Frage der Armut konzentriert und zumeist beruhigt festgestellt, dass trotz dieser Entwicklung der Sozialstaat in Deutschland im Prinzip greife. Übersehen wird dabei, dass selbst wenn niemand hungern muss, Ungleichheit selbst ein soziales Problem mit weitreichenden Folgen darstellt. Von Sozialepidemiologen in Europa und den USA wird ein Großteil der modernen Krankheiten und Todesursachen auf Stressdauersituationen zurückgeführt. Sich nicht nur im unteren Segment einer sozialen Verteilung wiederzufinden, sondern vor allem auch im erkennbar weiten Abstand zu dem Leben der Bessergestellten und ohne Chance eines Anschlusses, ist zunächst psychisch und dann physiologisch belastend. Es führt statistisch zu einer geringeren Lebenserwartung, wie übrigens auch zu mehr Kriminalität, Teenagergeburten et cetera. Und es wird über die Eltern an die nächste Generation weitergegeben.

Von einem eher rauen sozialen Klima bleiben aber auch die scheinbar Begünstigten nicht ganz verschont. Erhalt und Absicherung des dann prekärer wirkenden Status bedeutet ebenfalls sozialen Stress. Deshalb beobachten wir in Ländern oder Regionen, wo eine größere Ungleichheit herrscht, eine höhere Sterblichkeit fast aller Schichten, aber auch weniger zivilgesellschaftliches Engagement, eine stärkere Diskriminierung von Frauen und Minderheiten sowie eine geringere Lebenszufriedenheit. Unsere staatstragenden Parteien aller Couleur, die ihr Heil zurzeit fast ausschließlich in der Eliteförderung und den Kräften des Marktes zu finden scheinen, haben diese schädlichen Neben- und Wechselwirkungen noch gar nicht zur Kenntnis genommen.

Die vernünftigste praktische Schlussfolgerung daraus wäre nun, Steuern im oberen Einkommens- und Vermögenssegment zu erhöhen, um die für viele wahrzunehmende Ungleichheit im Lebensstil zu vermindern. Daraus resultierende Einnahmen könnten auf der einen Seite für langfristig positiv wirkende Bildungsausgaben, auf der anderen für substanzielle Lohnzuschüsse bei der Einstellung Arbeitsloser verwendet werden. Beides fordern viele Ökonomen, und Massenarbeitslosigkeit verursacht unstrittig den stärksten sozialen Stress.

Der deutsche Staat ist nicht schlank, sondern eher schon abgemagert zu nennen

Ebenso könnten die Unternehmensteuern für Kapitalgesellschaften kräftig angehoben werden, vor allem indem man die vielen Regeln zur Verkürzung der Steuerbasis einschränkt. Hier lassen sich aber auch durchaus investitionsfördernde Klauseln einbauen, die Optionen für Firmen beinhalten. Wer etwa Sachinvestitionen in Deutschland über seine Abschreibungen hinaus tätigt, könnte einem anderen Steuersatz unterliegen, als wenn er Gewinne ausschüttet, eigene Aktien zurückkauft oder nur im Ausland investiert.

Ein unrealistisches Programm? Die andere Denkschule hatte über viele Jahre hinweg ihre Chance. Mit dem bekannt mageren Ergebnis.

GERD GRÖZINGER