„Männer sind das schöne Geschlecht“

Über Schönheit und das aktuelle Leiden daran: Der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus erläutert, wie sich Biologie und Kultur bedingen, warum auch die Männer heute zusehends unter Aussehensdruck geraten – und warum es die Klugheit so schwer hat gegen die Tyrannei der Schönheit

INTERVIEW BRIGITTE WERNEBURG

taz: Herr Meinninghaus, der amerikanische Philosoph John R. Searl, sagt: Moderne Erklärungen und Theorien müssen mit der Teilchenphysik und der Evolutionstheorie verträglich sein. Die Schönheit als evolutionäre Errungenschaft macht uns da eher Probleme, große Karriere hat dagegen die These vom survival of the fittest gemacht. Müssen wir Darwin noch einmal lesen?

Winfried Menninghaus: Auf jeden Fall. Darwin hat mehrere Jahrzehnte über das Phänomen der oft extrem ornamentierten Vögel und sonstigen Tiere nachgedacht. Funktional, so seine Hypothese, sind diese Ornamente offenbar nicht als Anpassungsleistung an die Umwelt – wo sie eher hinderlich sind –, sondern allein als Resultat von Selektionsmechanismen innerhalb der eigenen Spezies. Der Grad der Ornamente verschafft Vorteile beim anderen Geschlecht.

Körperornamente sind ein zeichenhaftes Medium für Partnerwahl. Die übliche Theorie ging davon aus, dass männliche Tiere durch Kampf mit ihren Konkurrenten, also durch bloße Gewalt, die weiblichen Wesen erobern. Darwin hat dagegen gezeigt, dass Aussehenspräferenzen zusätzlich, oft auch ausschließlich die Partnerwahl steuern – und zwar in der Regel die weibliche Wahl männlicher „Schönlinge“.

Hängt unsere Irritation damit zusammen, dass wir uns schwer tun, einer Pfauenhenne etwa jenen „Sinn für Schönheit“ zuzubilligen, von dem Darwin spricht? Woher weiß sie, was schön ist?

Natürlich nicht. Alle evolutionären Mechanismen funktionieren unbewusst. Deshalb sind menschliche Selektionsmechanismen auch nicht mehr evolutionär, sofern sie zu einem großen Teil bewusst funktionieren. Es gilt daher strikt zwischen evolutionären Mechanismen und ihrem Fortleben in der Kultur zu trennen. Auch dafür ist Darwin der Vordenker. Darwin hat nämlich gesagt: Wir Menschen haben die evolutionären Mechanismen hinter uns gelassen, weil wir in Intelligenz und Technik Anpassungsfähigkeiten entwickelt haben, die uns fortan alle Änderungen unseres Körpers abnehmen.

Aber von dem Zeitpunkt an sind unsere prähistorischen Naturprogramme nicht mehr geändert worden – daher Darwins und Freuds Annahme, dass wir zwei Zeiten und zwei Programmierungen angehören: archaischen, vorgeschichtlichen Prägungen und den historisch-kulturellen.

Und welches Programm dominiert letztlich?

Diesen Mechanismen kommt eine Letztkonditionierung bei uns – anders als bei Tieren – nie zu. Die Evolutionstheorie unserer archaischen Verhaltensprogramme übersieht das leicht. Als kulturelle Wesen haben wir zahlreiche Möglichkeiten, die vorhandenen evolutionären Programme abzustellen. Es ist daher außerordentlich kühn, aus dem Fortbestehen solcher Programme, das gut belegt ist, auf ihre letztdeterminierende Kraft in Kontexten zu schließen, die immer auch ganz andere kulturelle Faktoren haben. So wird aus Biologie ideologischer „Biologismus“, und das macht es den Kulturwissenschaftlern dann so leicht, die Erkenntnisse der Biologie zu vernachlässigen. Diese Erkenntnisse sind aber sehr valide – nur ist eben ihre Reichweite beim Menschen begrenzter als bei allen anderen Arten.

Schön ist, was das andere Geschlecht präferiert? Das gilt für Menschen wie für Tiere?

Ja, so lautet die Basisdefinition. Sie ist der Kern der evolutionstheoretischen Erzählung vom „Ursprung“ der Schönheit in sexueller Attraktivität. Doch sofort gibt es wieder Unterschiede von Menschen und Tieren. Zwar werden auch wir Menschen nachweislich von unbewussten ästhetischen Präferenzen „programmiert“, aber andererseits sind menschliche Schönheitsmechanismen zu einem großen Teil bewusst. Damit gehen sie ins wandelbare kulturelle Wissen ein und werden zwischen den Geschlechtern geteilt.

Darüber hinaus ist es eine Besonderheit des Menschen, mittels gezielter Praktiken das eigene Aussehen verändern zu können. Das können Pfauen nicht, sonst hätten sie es auch getan. Dadurch ergibt sich etwas grundsätzlich Neues: Der Blick des anderen Geschlechts wird in die eigene Software eingebaut; denn Bemühungen um die eigene Schönheit, die nicht am Blick des anderen Geschlechts orientiert sind, würden zumindest keine Vorteile bei der Konkurrenz um Partner verschaffen. Mit diesem Vermögen zu partieller Herrschaft über das eigene Aussehen ergeben sich aber auch gesteigerte Potenziale für ein Leiden an Aussehensmängeln.

Seit dem Aufkommen des Feminismus gilt der so genannte männliche Blick als problematische Konditionierung von Weiblichkeit. Aber haben die Männer nicht umgekehrt mit dem Konzept Männlichkeit, in dem schlechte Manieren dominieren, eine starke Abwehr gegen den weiblichen Blick mobilisiert?

Die asymmetrische Verteilung von Schönheit zwischen den Geschlechtern impliziert stets auch andere Asymmetrien, insbesondere solche der Macht zu wählen und solche des „parental investment“, der Arbeit am Nachwuchs. Dasjenige Geschlecht, bei dem stärker auf physische Attraktivität Wert gelegt wird, ist stets einer höheren Konkurrenz des eigenen Geschlechts ausgesetzt. Es unterliegt der Wahl durch das andere, relativ unscheinbare Geschlecht und hat selbst nur eingeschränkte Wahlmöglichkeiten.

Mit Rücksicht auf die Machtverteilung ist es also eher ungünstig, das schöne Geschlecht zu sein?

Ja, man hat dann nämlich sehr viel mehr Leidenschancen und ist dasjenige Geschlecht, über das die Evolution wirkt, weil hier die sexuelle Selektion stattfindet. Das jeweils nicht schöne Geschlecht hat dagegen in einem vergleichsweise egalitären Maß an der Reproduktion teil. Aus dieser allgemeinen Theorie folgt, dass es automatisch ein Indiz ihrer Abhängigkeit ist, wenn und sofern Frauen vor allem für ihre physische Attraktivität „gewählt“ werden.

Die patriarchalen Verhältnisse haben es Männern über einen langen Zeitraum sehr bequem gemacht haben, für andere Dinge als für ihr Aussehen „gewählt“ zu werden, nämlich für das, was sie erfolgreich monopolisiert hatten: sozialen Status, Ressourcenkontrolle usw. Heute nun gleicht sich die materielle Ressourcenkontrolle zunehmend an. Es gibt einen Prozess in Richtung männlicher Entprivilegierung; in der Folge geraten die Männer unter den Druck anderer Selektionsmechanismen, insbesondere unter verstärkten Aussehensdruck.

Aber steckt im Konzept Männlichkeit nicht zu viel Emphase, als dass nicht auch Angst im Spiel wäre oder Trotz?

Ja, Emphase und Angst korrelieren – zumindest unter den heutigen Bedingungen. Zudem haben Verhaltensforscher festgestellt, dass der alte Gedanke der männlichen Wahl beim Menschen inzwischen weitgehend eine Illusion ist. Zwar machen Männer oft immer noch die expliziten Avancen. Aber in Situationen des Sichkennenlernens wurde festgestellt, dass es die Frauen sind, die durch subkutane Signale körpersprachlicher Art den männlichen Kandidaten konditionieren. Das weibliche Verhalten ließ immer das männliche antizipieren, aber nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: Die Frauen haben insgeheim die Macht der Wahl usurpiert. Und das Geniale ist: Sie haben dabei den Männern den Eindruck gelassen, sie wären die Wählenden. Evolutionstheoretisch betrachtet eine rekordverdächtige Verbindung von Erfolgs- und Täuschungsstrategie.

Bei der Illusion der männlichen Wahl wurden die Männer aber auch institutionell unterstützt?

Das ist richtig – aber über den größten Zeitraum der menschlichen Kultur hatten auch die jungen Männer nicht wirklich die Wahl. Heiraten wurden zwischen Clans und Familien vereinbart. Menschliche Kultur hat, wie schon Darwin bemerkt hat, über den größten Zeitraum hinweg vor allen Dingen für die Entmachtung der (animalischen) Schönheitswahl gesorgt. Erst mit dem 19. und mehr noch mit dem 20. Jahrhundert kommt das Moment der persönlichen „Wahl“ verstärkt auf – und zwar korrelativ zur Schwächung traditioneller sozialer Überlieferungen und Mechanismen.

Ausgerechnet das uralte vormenschliche Modell der Schönheitswahl wird (wieder) zum Lösungsmodell. In historischer Betrachtung hat das etwas geradezu Unheimliches. Im Zeichen des postmodernen Schönheitskults werden wir wieder vormoderne Urwesen. Das ist selbst eine historische Diagnose: Wir kehren in ein Muster der Vorgeschichte zurück. Aber da wir trotzdem im Feld der Geschichte bleiben, ist dieses Muster nicht mehr einfach dasselbe.

Dass ein Symposium „über Schönheit“ handeln kann, hängt damit zusammen, dass Schönheit den Menschen nicht mehr vorrangig sexuell aktiviert. Doch was dann?

Zunächst besagt das evolutionäre Modell in der Tat, dass ästhetische Attraktivität und sexuelle Attraktivität identisch sind. Das ist beim Menschen aber nicht so. Freud hat dafür als Erster eine evolutionstheoretische Erklärung gegeben. Aus dem ersten Ornament des menschlichen Körpers, dem Ablegen des Affenfells in Richtung nackte Haut, und aus der damit verbundenen Kultur der supplementären Bekleidung folgt für den sexuell interessierten Blick, dass er sein Objekt typischerweise nie ganz sieht. Unser Sehen ist immer mit einem Moment des imaginativen „Ergänzens“ verbunden. Damit wird das Sehen zu etwas anderem als einem natürlichen Blick: Unser Blick wird eine kulturelle Leistung. Die Imagination ist der Hauptfaktor für unsere kulturellen Leistungen, sie ist der Motor der Sublimierung. Lust an der Schönheit, so Freuds Konsequenz, hat beim Menschen aus sich heraus die Tendenz, sich selbst zu genügen und nicht mehr automatisch die Bahn sexuellen Begehrens zu sein.

Der Lust an Schönheit wird heute vor allem in den Medien gefrönt. Was bedeuten sie für eine Kulturgeschichte der Schönheit?

Die Bedeutung der Fotografie und der modernen Medien kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ich gebe ein Beispiel, das ein gut etabliertes Theorem der Ästhetik benutzt: Immanuel Kant hat wohl als Erster das Theorem von der „Normalidee der Schönheit“ formuliert. Danach gilt bei jeder Spezies der Durchschnittswert der Körperformen als sehr attraktiv, weil die Natur darin gewissermaßen „das Musterbild“ der ganzen Art aufstelle, wie Kant so schön sagt.

Ebendiese Hypothese ist in der neueren Forschung mit Computerbildern erhärtet worden. Je mehr Bilder von Gesichtern wir übereinander blenden, als desto attraktiver bewerten wir das Resultat, zumindest in Testsituationen. Nun ergibt sich aber eine neue Situation mit der Erfindung der Fotografie. Zuvor waren Vorstellungen über physische Attraktivität immer rückgekoppelt an das, was man im Dorf oder in der Stadt sehen konnte. In dem Moment nun, wo Sie das, was Sie täglich in den Medien sehen, in den Vergleichsfundus ihrer Wahrnehmung einspeisen – nämlich extrem unwahrscheinliche Körperformen –, in dem Moment wird ein evolutionärer Mechanismus umgekehrt in einen destruktiven Mechanismus.

Der evolutionäre Mechanismus produziert unter technischen Medienbedingungen einen absolut unrealistischen Maßstab, der in die sichere Unzufriedenheit führt. Das ist eine der bestbelegten Tendenzen seit vierzig Jahren, seitdem man solche Statistiken führt. Die „satisfaction rate“, die Zufriedenheitsquote, geht immer weiter in den Keller, je höher die durchschnittlichen Aufwendungen für die eigene Schönheit sind. Das ist eine direkte Korrelation: Je mehr Sie investieren, desto größere Chancen haben Sie, unzufrieden zu sein. Auch deshalb, weil Sie, je mehr Sie investieren, desto sensibler werden für die nächste kleine Unzulänglichkeit.

Könnten wir eigentlich, evolutionstheoretisch begründbar, irgendwann einmal genug von Schönheit haben?

Die Evolutionstheorie hat festgestellt, dass die Entwicklung der für schön gehaltenen Ornamente und Körperformen bei allen Spezies mit dem Einsetzen der sexuellen Reife zusammenfällt. Alle Schönheitsstandards, nicht erst die heutigen, sind insofern auf Jugendlichkeit geeicht. Der Mensch überlebt seine Jugend länger als alle anderen Wesen. Er hat also besonders viele Gründe, sich nicht die andere Zeit seines Lebens durch verzweifeltes, aber erfolgloses Festhalten an dem, was schon in der Jugend selbst tyrannisch ist, zu verderben. Aber diese wünschenswerte Klugheit hat es unerhört schwer. Der Verdacht mancher Forscher geht dahin, dass sein Diskriminierungspotenzial, zumindest in manchen Ländern, größer ist als dasjenige von Hautfarbe, Religions- oder Klassenzugehörigkeit.

Aus interessanten Gründen ist es besonders schwer, etwas dagegen zu tun. Denn die Benachteiligten teilen selber die Präferenzen zugunsten der Schönen, unter denen sie leiden. Sie haben nicht die Macht, einen anderen Standard zu etablieren – oder die Macht, einen Ausstieg zu etablieren. Man müsste sehr viel mehr darüber sprechen. Was mindestens erreicht werden müsste, wäre eine gewisse ironische Distanz zu diesen leider alles andere als spaßigen Mechanismen.