: „Es ist nötig, an alle zu erinnern“
Horst Matzerath über die Bedeutung von Zeitzeugen für die Jugend, einen Wechsel in der Täter-Opfer-Perspektive und die Wichtigkeit von Orten, an denen echter Terror herrschte
taz: Im EL-DE-Haus, der früheren Kölner Gestapo-Zentrale, ist gerade die Ausstellung „Zwischen den Fronten“ angelaufen. Sie dokumentiert die Kriegserfahrungen der breiten Kölner Bevölkerung. Was ist das Besondere an der Ausstellung?
Matzerath: Es ist nötig, an alle Gruppen zu erinnern, die während der NS-Zeit gelitten haben. Dazu zählt die Kölner Bevölkerung, aber auch die Soldaten, die an der Front gestanden haben. Auch sie sind Opfer des Nationalsozialismus, Opfer des Krieges, den Hitler inszeniert hat und den er für seine Ziele geführt hat.
Birgt das Ausstellungskonzept nicht die Gefahr, dass die Grenze zwischen Tätern und Opfern verschwimmt?
Dieses Problem kann durchaus bestehen, und dem muss deutlich entgegengearbeitet werden. Das heißt, dass hier nicht Leiden gegen Leiden aufgerechnet, sondern bewusst gemacht wird, was Ursache und was Folge ist.
In der Kölner Ausstellung sowie in der derzeitigen Erinnerungskultur spielen Zeitzeugen eine sehr große Rolle.
Die Begegnung mit den Zeitzeugen ist gerade für junge Menschen eine der wirksamsten Formen der Erinnerung, weil an ihnen das gelebte Schicksal deutlich wird, und man es auch auf die eigene Situation beziehen kann. Und sie ist wichtig für die Zukunft, weil von diesen Zeitzeugen nur noch wenige unter uns leben. Diese persönliche Begegnung muss – wenn auch im Mittel des Films oder des Videos – weiter ermöglicht werden.
Beherrscht die Angst vor dem Sterben der letzten Zeugen die Historiker, die Ausstellungs- und Filmemacher?
Noch bis in die 80er Jahre hinein war es schwierig, Zeitzeugen zu finden und zu befragen. Und zwar nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Das Schweigen, das über Jahrzehnte bestanden hatte, musste erst gebrochen werden. Dieser Prozess – und ich würde hier dem „Holocaust“-Film eine ganz entscheidende Rolle zuweisen – hat in den 80er Jahren erst begonnen und sich auf erstaunliche Weise im vergangenen Jahrzehnt fast inflationär entwickelt.
Die Form, aber auch die Inhalte des Gedenkens haben sich verändert – weg von der Täter-Opfer-Perspektive.
Die Form des Gedenkens entwickelt sich permanent. Ich halte das auch für wichtig, weil es immer neue Generationen gibt, die erneut die Auseinandersetzung suchen müssen.
Wie kam es, dass im Erinnerungsdiskurs der verengte Blick auf Täter und Opfer ausgeweitet wurde auf die gesamte Bevölkerung? Wo war der Wendepunkt?
Erst zu Beginn der 90er Jahre hat sich die Perspektive verschoben. Es hat sich gezeigt, dass diese enge Beschränkung auf Täter und Opfer auch einem versteckten Bedürfnis der Gesellschaft entsprach, sich selbst aus der Verantwortung auszuklammern. Hier ist sehr deutlich geworden, dass das Funktionieren des NS-Systems doch nur möglich war durch die breite Mitwirkung der gesamten Bevölkerung. Umstritten war dann die Rolle der Gedenkstätten: Sollten sie nur ein Ort der Opfer sein oder einen umfassenden Bildungsauftrag haben?
Musste erst ein intensive Auseinandersetzung mit den Opfern stattfinden und sich in Gedenkorten wie etwa dem Holocaust-Mahnmal in Berlin niederschlagen, bevor ein weiter Blickwinkel möglich wurde?
Ich halte dies für ritualisierte Formen des Gedenkens. Ob sie nötig sind, ist eine schwierige Frage. Ich halte letztlich die Erfahrung mit solchen Orten, an denen wirklich Terror geschehen ist – und wir haben eine ganze Reihe von KZ-Gedenkstätten und das EL-DE-Haus – für wichtiger und eindringlicher als die mit künstlerisch gestalteten Orten.