: Rätselraten um Bremer Taliban
Murat Kurnaz, der „Bremer Taliban“, sollte nach über dreijähriger Haft auf Guantánamo freigelassen werden. Die Auslieferung an die Türkei ist jedoch offenbar geplatzt. Kurnaz’ Anwalt spricht von „ungeheurer Mediengerüchteküche“
AUS BREMEN HENNING BLEYL
Murat Kurnaz ist nicht frei. Gerüchte besagten gestern zwar, der als „Bremer Taliban“ bekannt gewordene Türke sei aus dem US-Lager Guantánamo entlassen worden. Sein US-Anwalt erklärte aber gegenüber der Nachrichtenagentur AP: „Der Rechtsvertreter des US-Verteidigungsministeriums hat mir auf eine E-Mail-Anfrage geantwortet, Kurnaz sei nicht entlassen worden.“ Dieses Gerüchtedementi blieb nicht das einzige. „Murat Kurnaz ist nicht in der Türkei“, sagte gestern ein Polizeisprecher im südtürkischen Adana. Zahlreiche Medien hatten zuvor berichtet, der 24-Jährige sei auf den US-Stützpunkt Incirlik in der Südtürkei ausgeflogen worden – was ein Ende der über dreijährigen Isolationshaft im kubanischen US-Lager bedeutet hätte.
Der türkische Polizeisprecher sagte aber auch: „Die Auslieferung von Kurnaz ist geplant gewesen.“ Die türkischen Großeltern von Kurnaz sind offenbar von ihrem Ortsbürgermeister über eine bevorstehende Ankunft des Enkels informiert worden. „Das hat zu einer ungeheuren Gerüchteküche geführt“, so Bernhard Docke, Bremer Anwalt des Schiffbauer-Azubis, der im Dezember 2001 an der afghanischen Grenze aufgegriffen worden war. Kurnaz wäre der erste von offenbar sieben in Guantánamo inhaftierten Türken gewesen, der freikäme.
Die Mutter hatte mit ihrem Kampf um Kurnaz‘ Freilassung im letzten Jahr neue Aufmerksamkeit auf die Guantánamo-Häftlinge gelenkt. Ein Grundsatzurteil eines US-amerikanischen Gerichts hatte Kurnaz kürzlich als „Paradebeispiel“ für die Verfassungsfeindlichkeit der Guantánamo-Tribunale angeführt: Ihm sei Beweismaterial vorenthalten worden. Das Gericht verwies darauf, dass unter Folter zustande gekommene Geständnisse nicht verwendet werden dürfen. Offenbar aus gegebenem Anlass: Immer wieder berichten selbst FBI-Beamte von schwerer Prügel und Todesdrohungen. Kurnaz erklärt, ihm seien Elektroschocks über die Füße verabreicht worden. Zu seinen Qualen zählt er Hunger, extreme Kälte und Hitze; zudem sei er mit Injektionen malträtiert worden.
Offenbar setzt sich beim US-Militär die Einschätzung durch, dass aus einem Großteil der rund 570 Gefangenen nichts mehr „herauszufragen“ ist. Nachdem bereits einige Briten, Franzosen und Australier freikamen, wird erwartet, dass in diesem Jahr eine insgesamt dreistellige Inhaftiertenzahl freikommt.
Wenn Kurnaz unter ihnen wäre, stellt sich die Frage, wo er nach seiner über dreijährigen Gefangenschaft nun bleiben kann. Er besitzt keine deutsche, sondern die türkische Staatsbürgerschaft. Die hiesige Ausländerbehörde verweist darauf, dass sich Kurnaz nicht vor Ablauf eines sechsmonatigen Auslandsaufenthalts bei den deutschen Behörden zwecks Verlängerung gemeldet habe. Das hätte er im Mai 2002 tun müssen. Da befand sich Kurnaz allerdings bereits auf Guantánamo.
Eine zynische Haltung gegenüber einem hilflos und nach verbreiteter Einschätzung völkerrechtswidrig Inhaftierten? „Keineswegs“, sagt Dirk Hoffmann vom Bremer Innenressort, der zuständigen Dienstaufsichtsbehörde. Das Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis bei Nichtmeldung sei gesetzlich zwingend: „Das Recht unterscheidet hierbei nicht nach Gründen.“ Kurnaz stehe nun die Möglichkeit offen, sich in Deutschland um ein Visum zu bemühen. Nach Auskunft der Bremer Staatsanwaltschaft erwartet ihn hier allerdings ein Ermittlungsverfahren wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“.