: Wo, bitte, geht’s zur Basis?
Über fünf Millionen Arbeitslose machen Angst. Mit ihnen verschiebt sich die Frage nach dem Ort, an dem über die Zukunft der Gesellschaft entschieden wird. Ist es noch die Arbeit, mit der die Gesellschaft gestaltet wird, wie sowohl der Sozialismus als auch der Kapitalismus noch beide behaupteten, oder sind es nicht viel mehr schon die fehlende Arbeit und die nicht mehr bezahlbare Arbeitskraft, die den Ort jedes Einzelnen und sein Verhältnis zu den anderen in immer bedrückenderem Maße prägen werden?
Heute eröffnet die Buchmesse in Leipzig, und morgen findet der Jobgipfel im Kanzleramt Berlin statt. Wir drucken vier Kurzgeschichten junger Autoren, die in den Agenturen für Arbeit recherchiert haben. Alle vier schreiben über die Perspektive derer, die Arbeit verloren haben und suchen, keiner über die Vermittler. Die kurzen Erzählungen spiegeln das vorsichtige Umkreisen eines Ortes, der eine anonyme Macht entfaltet. Als hätte es niemand mehr in der Hand, nicht auch dort zu landen.
Die vier Geschichten von Tanja Dückers, Anke Stelling, Tobias Hülswitt und David Wagner entstanden im Auftrag des Gorki-Theaters Berlin für einen Theaterabend mit dem Titel „Bitterfelder Konferenz reloaded“ (heute Abend, 20 Uhr, Studio des Gorki-Theaters, Berlin-Mitte). Er ist Teil eines Programms, das in 40 Veranstaltungen, Stücken, Lesungen und Kommentaren den Weg von 40 Jahren DDR verfolgt. Die 1. Bitterfelder Konferenz, die 1959 im Kulturhaus des VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld unter dem Thema „Ökonomische Hauptaufgabe und Literatur“ stattfand, forderte eine stärkere Verbindung zwischen Kunst und Arbeitswelt. Die Künstler sollte ihre Lebensweise verändern und sich an die Basis begeben. Der Schreibauftrag an Tanja Dückers, Anke Stelling, Tobias Hülswitt und David Wagner ist für das Theater ein Experiment, um die Fragen des Bitterfelder Wegs aus einer heutigen Perspektive neu zu diskutieren.
KATRIN BETTINA MÜLLER