: Was bewahrt werden soll
Gibt es die Tendenz, die Verbrechen der Nazizeit empathisch in einem allgemeinen Jahrhundert der Barbarei untergehen zu lassen? Danach fragt erfreulich provokativ die Aufsatzsammlung „1945 und wir“ des Zeitgeschichtlers Norbert Frei
VON CHRISTIAN SEMLER
Es mindert nicht, sondern mehrt die Reputation eines Historikers, wenn er die sichere Festung seines Spezialgebiets verlässt und sich mutig ins Getümmel aktueller geschichtspolitischer Kontroversen stürzt. Diesen Gefallen hat uns jetzt der Zeitgeschichtler Norbert Frei mit der Herausgabe der Aufsatzsammlung „1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen“ getan. Zwar sind die meisten der dort versammelten Arbeiten schon erschienen, allerdings an verstreuten Orten.
Frei geht es in seinen Texten vor allem um eins: das Verhältnis der Deutschen zu ihrer braunen Vergangenheit in den einzelnen Phasen der Nachkriegsgeschichte bis hin zu den jüngsten Deutungskämpfen um den alliierten Luftkrieg oder um Flucht und Vertreibung aus den vormals deutschen Ostgebieten.
Besonders wichtig und auf erfreuliche Weise provozierend ist der bislang nur gekürzt publizierte Eingangsaufsatz Freis „1945 und wir“. Sind wir, fragt der Autor, in unserem Verhältnis zur Nazizeit an einer Wegmarke angelangt, wo sich die Konturen verwischen, wo an die Stelle der Analyse des Herrschaftssystems eine einebnende Erzählkultur tritt, an die Stelle der Kritik die Empathie, an die Stelle gesicherter Urteile ein zu nichts verpflichtendes Moralisieren? Schließlich scheinen im Zeichen der Opferkonkurrenz jetzt auch Teile der alt gewordenen ehemals revolutionär gestimmten Linken am Opferstatus teilhaben zu wollen – als geschädigte Kriegskinder.
Frei bemüht für sein Unternehmen zwei Koordinaten. Die erste betrifft die Periodisierung. Nach einer kurzen Phase der Erschütterung und der (sehr partiellen) Abrechnung folgt die lange Phase der „Vergangenheitspolitik“, deren hauptsächlicher Zweck die Abschirmung, dann die Rehabilitierung von Tätern und Mitläufern des Naziregimes war: die 50er- bis zur Mitte der 60er-Jahre. Auf sie folgte die Phase der Vergangenheitsbewältigung bis in die 80er-Jahre, die nachholende Auseinandersetzung mit der nazistischen Erbschaft, wobei Frei die initiierende Funktion des Auschwitz-Prozesses hervorhebt. Schließlich landen wir bei der letzten Phase, der der Vergangenheitsbewahrung. Aber was soll bewahrt werden und wie? Darum geht’s.
Über diesen Phasenablauf legt Frei ein Generationenmodell im 15-Jahres-Rhythmus: die Tätergeneration, dann die der Flakhelfer und kurz vor Kriegsende Eingezogenen, die Frei mit der „skeptischen Generation“ identifiziert, und schließlich die 68er. Was danach kommt, verschwimmt. So verführerisch es ist, mit Generationen zu hantieren, so leicht gerät hier die Analyse auf Abwege. Frei untersucht nicht, um welches Sinn stiftende Erlebnis herum sich die einzelnen Generationen (vereinfacht die Jahreskohorten) konstituiert haben. Auch verzichtet er darauf, bei dieser glitschigen Erkundung soziale und ökonomische Daten als Trennpflöcke zu verwenden. Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, die einiges zur Selbsteinschätzung der jeweiligen Generation beitragen können, werden nicht berücksichtigt.
Es fehlen trennscharfe Kriterien. Nur ein Beispiel: Wieso ist Habermas ein Vertreter der „skeptischen Generation“, die sich doch nach ihrem Erfinder Schelsky durch Ablehnung von politischem Engagement und durch Misstrauen gegenüber großflächigen Ideen ausgezeichnet hat? Reichlich konstruiert scheint mir auch der Verdacht gegenüber „Teilen der 68er“, sie seien jetzt ebenfalls in den Opferwettbewerb als Kriegskinder eingetreten. Das Engagement vieler Vertreter dieser Generation, etwa für die Entschädigung der Zwangsarbeiter, spricht da eine andere Sprache. Damit soll nicht gesagt werden, ein Generationenschema sei wertlos. Nur, bei Norbert Frei erschließt sich seine Bedeutung nicht.
Hat Frei Recht mit seiner Feststellung, es gebe heute in der Politik wie in der Gesellschaft die Tendenz, die Naziverbrechen ihres Orts, ihres Kontexts zu entkleiden und im Zeichen einer falschen Universalisierung des Leids im „Jahrhundert der Barbarei“ untergehen zu lassen? Für diese Tendenz gibt es tatsächlich beunruhigende Hinweise, zu denen auch die entpolitisierende Wirkung vieler Erzeugnisse der Fernsehgeschichtsindustrie à la Guido Knopp oder Filme wie „Der Untergang“ gehören.
Von deren emotionalen Subtexten wären freilich die offenen politischen Zielsetzungen zu unterscheiden, wie sie etwa das „Zentrum gegen Vertreibungen“ verfolgt. Hier gibt es mittlerweile klare politische Fronten, es gibt Argumente der Befürworter wie der Gegner des Zentrums (darunter übrigens auch 68er!), deren Stichhaltigkeit Frei zu prüfen hätte. Was aber nicht funktioniert, ist eine Art Symptomatologie, in der alles, von Äußerungen des Bundeskanzlers bis zu Helga Hirschs Lebensläufen von Vertriebenen, als Indizienkette für den „Gezeitenwechsel“ hinsichtlich der Beurteilung der Nazizeit aufgebaut wird.
Frei hat Recht, Bereitschaft zur Erinnerung reicht nicht, das Wissen um historische Kontexte ist gefragt. Das trifft allerdings auch auf die gegenwärtigen Akteure zu. Denken wir nur an die zwiespältige Wirkung des Menschenrechtsdiskurses, der sowohl historisches Bewusstsein schärfen als auch abtöten kann. Der Massenmord von Srebrenica 1985 ist hierfür ein Beispiel. Einwände dieser Art mindern nicht die Bedeutung von Freis Arbeit. Er hat eine Fehdehandschuh geworfen. Jetzt ist der Weg der Auseinandersetzung mit den Geschichtsmythologen offen.
Norbert Frei: „1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen“. C. H. Beck, München 2005, 224 Seiten, 19,90 €