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Archiv-Artikel

Echte Musterstücke

Die Welt ist ein extrem gefährlicher Ort: Nick Flynn gibt in „Bull Shit Nights“ Auskunft über sich und seinen Vater

„Ein paar Monate nach seinem Rauswurf, einen Monat bevor er ins Obdachlosenheim kommt, sehe ich, wie mein Vater auf einer Bank an der Esplanade schläft. Kein Zimmer mehr, kein Taxi mehr, alles hat zu dieser Bank geführt. Der erste schöne Frühlingstag, spazieren gehende Familien. Mein Vater torkelt zum Flussufer, um zu pinkeln, umklammert seinen Schwanz. Ein kleines Mädchen deutet auf ihn. Aus irgendeinem Grund sehe ich immer, wenn ich an diesen Tag denke, dieses kleine Mädchen vor mir.“ Die kurze Szene steht in Nick Flynns Buch „Bull Shit Nights. Die Geschichte mit meinem Vater“ und führt, auch wenn sie erst auf Seite 204 steht, in den Gegenstand und Flynns Schreibtechnik.

Es ist bei „Bull Shit Nights“ völlig egal, wo man das Buch aufschlägt oder ob man vor- oder zurückblättert, es geht kein Plot verloren. Es sind ausgezeichnete Fragmente, kleine Beobachtungen, aufgeladen mit Gedanken, unterbrochen von Wallace-Stevens-ähnlichen Sätzen, die den Fluss der Schrift unterbrechen. „Gefängnisse sind Halbwüsten der Zeit, aber die Tage haben auch dort, wie überall, einen Rhythmus“, heißt es in einem Fragment mit dem Titel „Halbwüste“. Flynn springt zwischen Orten, Jahreszeiten und biografischen Daten, ohne dem Diktat von Chronologie und Kompass zu folgen. Seine Bruchstücke lassen sich nicht zu einem Ganzen totalisieren. Der Verlag tat deshalb gut daran, „Bull Shit Nights“ weder als Erzählung noch als Roman zu kennzeichnen. Auf dem Original steht „A memoir“, eine Erinnerung. So ist es, nur ist diese so weit weg von der Schauspieler- oder Politikermemoirenliteratur, das selbst diese Kategorie in die Irre führt.

Flynn erzählt die Geschichte seines Vaters und damit natürlich auch seine. Aber er muss es zwangsläufig aus der Distanz tun. Sein Vater, ein grandioser Angeber mit literarischen Ambitionen, verließ Nick, als dieser sechs Monate alt war. Die Mutter zog Nick und seinen Bruder allein groß, bis sie, als Nick 22 war, den Freitod wählte. Flynn führt dann selbst ein Leben mehr auf der Straße als in dem alten Warenhaus oder dem Boot im Hafen von Boston, wo er in der Regel schläft. Irgendwann findet er auf einer Parkbank einen Obdachlosen, der sich als sein Vater entpuppt. Zwanzig Jahre hat Flynn ihn nicht gesehen, und der Anblick des Alten weckt keine neue Sympathie in ihm. Das zufällige Zusammentreffen setzt aber etwas in Gang, dessen Ergebnis jetzt vorliegt. Mit dem Penner auf der Parkbank beginnt eine Erinnerungsarbeit der persönlichsten Art. Sieben Jahre hat Flynn an dem Buch geschrieben, und es sind „Musterstücke“ (Walt Whitman) der amerikanischen Erfahrung dabei herausgekommen. Die Größe des Buchs besteht darin, das Flynn die Sujets Obdachlosigkeit, Alkohol und verlorener Vater nicht in Sentimentalität, Mitleid oder karitative Hilfe überführt. Er arbeitet zwar in einem Obdachlosenasyl, registriert aber auch dort das Geschehen mit dem Dienstbuch.

„Gegen 12.30 Uhr habe ich beobachtet, wie Jack Styles an Bobo Jenkins bestimmte sexuelle Handlungen vollzog. Auch wenn es für alles eine Zeit und einen Ort gibt, finde ich weder, dass 12.30 Uhr die richtige Zeit ist, noch, dass die Toilette des Braunen Saals der richtige Ort ist. Wegen seines Verhaltens […] schlage ich vor, gegen Jack Hausverbot zu verhängen.“ Der Vorschlag wird abgelehnt, wie so viele seiner Vorschläge. Darin treffen sich Sohn und Vater. Ein Zenmeister hatte Flynn in einer Therapie sowieso gerade erklärt, dass sein Körper die Fortführung des Körpers seines Vaters sei. Das kann schon sein, und an manchen Tagen hört sich das ganz gut an. An anderen eher nicht. Es gibt in Flynns Buch keinen therapeutischen Fluchtpunkt. Er habe, schreibt er an einer Stelle, den ganzen Tag versucht, Mitgefühl zu entwickeln. Ob etwas daraus geworden ist, erfährt man nicht. „Im Alter von neun Jahren weiß ich, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist. Ich habe die Leute von Rasierklingen in Äpfeln, von Charlie Manson und seiner Familie flüstern gehört. Aber niemand gibt einem eine klare Auskunft“, schreibt er und liefert in „Bull Shit Nights“ den Beweis, dass es anders geht: Er gibt klare Auskunft. CORD RIECHELMANN

Nick Flynn: „Bull Shit Nights. Die Geschichte mit meinem Vater“. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Marebuchverlag, Hamburg 2005, 337 Seiten, 18 €