Abhaken und vergessen

Ein Jahr nach seiner Bronzemedaille von Dortmund fällt der Eiskunstläufer Stefan Lindemann bei der WM mit einer verpatzten Kurzkür weit zurück und kämpft nur noch um einen Startplatz bei Olympia

AUS MOSKAU DORIS HENKEL

Hundertmal und mehr liegen sie am Boden, bis ein Sprung verlässlich funktioniert, hundertmal und mehr tragen sie blaue Flecken als Zeichen der schmerzhaften Lektionen. Es bleibt Eiskunstläufern gar nichts anderes übrig, als zum Auf und Nieder ihres Sports ein eher fatalistisches Verhältnis zu entwickeln, aber das kann ja auch eine Hilfe sein. Zweimal lag Stefan Lindemann Dienstagabend in Moskau flach auf dem Eis vor 9.000 Zuschauern im Luschniki-Sportpalast; zwei Stürze beim Vierfach-Toeloop und beim Lutz und ein verpatzter Dreifach-Axel, die zum völlig überraschenden Absturz aus vermeintlich sicheren Höhen führten. „Letztes Jahr bin ich mit dem Kurzprogramm in die Weltspitze gelaufen, dieses Mal ging es voll daneben“, sagte der 24-jährige Erfurter, der bei den Weltmeisterschaften 2004 in Dortmund noch sensationell Bronze gewonnen hatte.

Doch so groß die Enttäuschung auch war, er trug sie im Wissen um die Wechselfälle des Lebens mit einem Anflug von Gelassenheit. „Es gibt solche Tage im Leben eines Sportlers. Wenn ich das nicht wegstecken kann, dann weiß ich auch nicht.“ Genauso unaufgeregt gab sich Ilona Schindler. „So ist der Sport – der Mensch ist keine Maschine“, sagte Lindemanns Trainerin, die an der Bande „tausend Tode gestorben war“, und analysierte: „Die Saison ist lang, die meisten krebsen hier nur noch rum. Auf diesem Niveau entscheidet die mentale Stärke.“ Sie glaubt nicht, dass Lindemann der Blackout weit zurückwerfen wird. „Wir halten in guten wie schlechten Zeiten zusammen. Es ist besser, das passiert jetzt als bei Olympia.“

Es war richtig nett, wie Stefan Lindemann kurz vor Mitternacht bei der Auslosung der Startnummern für die Kür seine Freundin Nicoletta begrüßte und ihr zweimal liebevoll auf den Hintern klopfte; so als müsse er sie trösten und nicht sie ihn. Sprachlose Kommunikation anstelle fehlender Worte. Er hatte nicht mal ansatzweise eine Ahnung, wie er in die Niederungen dieser Kurzkür geraten war.

Nein, die Folgen der Verletzung seien es nicht gewesen, die habe ihn nicht mehr behindert als am Tag zuvor in der Qualifikation. Auch morgens im Training habe alles noch prima funktioniert. Und der Druck sei sicher nicht größer gewesen als sonst. „Ich habe für nichts eine Erklärung“, sagt Lindemann, „für gar nichts.“ Ein Rätsel, das alles.

Der Präsident der Deutschen Eislauf-Union (DEU), Reinhard Mirmseker, hatte sichtlich gelitten. Dennoch empfahl er: „Da gibt’s nur eines: abhaken, schnell vergessen, weitermachen.“ Genau das wird Deutschlands bester Läufer tun, wenn auch mit einer ganz anderen Zielsetzung als zu Beginn gedacht. Im alten Wertungssystem wäre der Sturz des WM-Dritten vielleicht auf Rang zehn oder zwölf abgefedert worden, das neue System – wenn es denn konsequent angewendet wird – bestraft Fehler hart mit einem drastischen Abzug der Punkte, und so landete Lindemann auf Platz 18. Nun kann es nur noch um Schadensbegrenzung gehen, um den Versuch, heute mit einer guten Kür dem Verband und damit vermutlich letztlich sich selbst einen Startplatz für die Olympischen Spiele 2006 in Turin zu sichern. In Moskau werden bereits 24 Olympia-Startplätze über ein kompliziertes System vergeben. Je weiter Lindemann noch nach vorn kommt, desto sicherer wird dieser Platz sein.

Diesmal wird Stefan Lindemann, anders als vor einem Jahr bei der Weltmeisterschaft in Dortmund und vor knapp zwei Monaten bei der EM in Turin, die Arbeit hinter sich haben, wenn die anderen um die Medaillen laufen. Mit den allerbesten Aussichten jener Mann, der von Lindemann in Dortmund wie in Turin auf Platz vier verdrängt worden war, Stéphane Lambiel. Der Schweizer Künstler führt vor der Kür mit sattem Vorsprung vor dem Franzosen Brian Joubert und Titelverteidiger Jewgeni Pluschenko. Der dreimalige Weltmeister aus Sankt Petersburg musste Schmerztabletten schlucken und sich spritzen lassen, damit seine lädierte Leiste nach vier Jahren auf Top-Niveau überhaupt noch den Belastungen des harten Sports standhält. Er hätte sich womöglich längst von dieser Weltmeisterschaft verabschiedet, fände sie nicht in seiner Heimat statt. Vielleicht aber auch nicht; so schnell gibt keiner auf, der hundertmal und mehr am Boden war.