„Vielleicht ein bisschen anachronistisch“

THEATER-TRANSIT Mit dem „Orient-Express“ des Stuttgarter Schauspiels kommen Theater aus Osteuropa und der Türkei nach Stuttgart. Ein aufwendiges Projekt – der Dramaturg Christian Holtzhauer fuhr mit

■ Christian Holtzhauer, geboren 1974, ist Dramaturg am Schauspiel Stuttgart und Initiator des internationalen Theaterprojekts „Orientexpress“. Theaterensembles aus Slowenien, Kroatien, Serbien, Rumänien und der Türkei sind bei diesem internationalen Projekt entlang der Route des historischen Orientexpress in einen 180 Meter langen Zug gestiegen, bei dem einer der Waggons zur Bühne umgebaut war, und führten die eigens für das Projekt entwickelten Stücke auf. Die letzte Station sechs Wochen nach dem Start in Ankara ist der Stuttgarter Hafen, wo vom 9. bis 19. Juli sechs Neuproduktionen gezeigt werden. Infos unter www.staatstheater-stutttgart.de

INTERVIEW VON CLAUDIA GASS

taz: Herr Holtzhauer, der Orientexpress war legendär, auch für seinen Luxus. Galt das auch für den Theaterzug, den Sie vor sechs Wochen in Ankara abgeschickt haben?

Christian Holtzhauer: Unser Theaterzug war sehr komfortabel, aber der Luxus reichte natürlich nicht an den im historischen Orientexpress heran. Die gemächliche Reisegeschwindigkeit war aber vergleichbar. Insofern hat das Projekt vielleicht ein bisschen etwas Anachronistisches, das aber gerade den Reiz einer solchen Reise ausmacht.

Worin bestanden die größten logistischen Herausforderungen bei dieser Theaterreise?

Die erste Herausforderung lag in der Kommunikation zwischen den verschiedenen nationalen Bahngesellschaften, die auch im übertragenen Sinn unterschiedliche Sprachen sprechen. Wir haben gedacht, zwischen den Theatern sei die Verständigung schwierig, aber das ist gar nichts im Vergleich zu den Bahngesellschaften. Dann ist da die ganze Zollabwicklung. Alles, was wir im Theaterzug mitgenommen haben, jedes Bühnenbildteil, jedes Kostüm musste in den dafür vorgesehenen Carnets erfasst werden. Die entsprechenden Papiere mit endlos langen Listen haben bestimmt mehrere Kilo gewogen. Die Zollkontrollen dauerten gerade am Beginn der Reise sehr lange und haben zu erheblichen Verspätungen geführt.

Was wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?

Wir hatten nach der Ankunft in Ankara einen enormen Endprobenstress vor der Premiere unseres Stücks „80 Tage, 80 Nächte“. Weil wir kaum Gelegenheit hatten, am Bahnhof zu probieren, war es eine ziemliche Harakiri-Aktion. Und am Premierenabend hätte unser Zug eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn beinahe einen einfahrenden Schnellzug gerammt. Eine kuriose Situation haben wir im Istanbuler Bahnhof Sirkeci, also in der historischen Abfahrtsstelle des Orientexpress, erlebt. Da hat unser Zug, der ja den Schriftzug „Orient-Express“ trägt, großes Interesse geweckt, und Heerscharen überwiegend japanischer Touristen haben sich davor fotografieren lassen. Eine besonders schöne Erfahrung war für das deutsche Team die Vorstellung in Craiova, einer mittelgroßen, relativ armen Industriestadt im Süden Rumäniens. Das Publikum war unglaublich aufmerksam und begeistert. Man hatte das Gefühl, den Menschen, die sonst im Alltag vielleicht nicht so viel zu lachen haben, etwas geben zu können, das ihnen Freude bereitet.

Die Europawahl kürzlich hat ein Desinteresse der Europäer an der EU aufgezeigt sowie eine erschreckende Tendenz, sich gegen das Fremde abzuschotten. Wie hat die „Völkerverständigung“ auf der Theaterreise funktioniert?

Überwiegend gut, die Zuschauer waren meist sehr neugierig und dankbar für das Angebot. Die Länder entlang der Route, die unser Theaterzug genommen hat, haben unterschiedliche Status in Bezug auf die EU: die Beitrittskandidaten Türkei und Kroatien, die relativ neuen Mitgliedsländer Rumänien und Slowenien und dann Serbien, das noch nicht mal Beitrittskandidat ist. Bei allen vorhandenen Ängsten sind bei den Ländern, die in die EU wollen, große Hoffnungen auf wirtschaftlichen Aufschwung mit der angestrebten EU-Mitgliedschaft verbunden. Und gerade bei Serbien und Kroatien auch die Hoffnung, die Isolation, durch die die Länder durch die Bürgerkriege in den 1990er-Jahren geraten sind, zu überwinden. In Rumänien beispielsweise hat der EU-Beitritt bei allen Schwierigkeiten zu einer gesellschaftlichen Fortentwicklung geführt. Vor diesem Hintergrund noch mal unsere deutsche, eher desinteressierte bis EU-kritische Perspektive zu überdenken, finde ich durchaus sinnvoll.

Was für Themen bewegen die Menschen in den Theaterstücken?

Vorgabe war, dass sich die Stücke, die alle Auftragswerke sind, mit dem Themenkomplex rund um den Orientexpress beschäftigen sollten. Neben Europa war uns das Thema Migration sehr wichtig. Das Schöne ist, dass es in allen beteiligten Ländern gelungen ist, sehr bekannte Autoren zu gewinnen, beispielsweise die junge kroatische Autorin Tena Štivičić, das türkische Regieduo Mustafa und Övül Avkiran oder den rumänischen Autor Matéi Visniec. Alle Autoren haben über die Lebenssituation der Menschen vor Ort geschrieben.

Auf was für Theaterauffassungen treffen wir?

Von der Ästhetik her sind die Inszenierungen dem sehr verwandt, was wir auch hier an Regietrends sehen. Beim rumänischen Stück beispielsweise wirkt es so, als hätte der Regisseur sich intensiv mit René Polleschs Theater beschäftigt, was mit Sicherheit nicht der Fall ist. Die Stücke sind so gut wie gar nicht folkloristisch. Das türkische Stück spielt zwar mit literarischen Mythen und setzt traditionelle türkische Musik ein, ist aber von der Spielweise mit seinem performativen Ansatz sehr modern. Insofern bietet das Festival in Stuttgart ein interessantes Spektrum an zeitgenössischer Theaterarbeit in Europa.