JOACHIM LOTTMANN ÜBER MARX 2.0DIE OH-LORD-SEMANTIK BEI MICHAEL JACKSONS TRAUERFEIER IST UNÜBERBOTEN
: Gefühle lügen nicht

Dass Michael Jackson „der größte Entertainer war, der je lebte“ (Berry Gordy), wurde sogar durch seine Trauerfeier augenfällig. Denn es war auch die tollste Beerdigung, die je lebende Menschen ausgerichtet haben. Niemals zuvor wurden Gefühle derart bewegend in Szene gesetzt wie beim größten TV-Ereignis aller Zeiten (1,35 Milliarden Zuschauer).

Bei Michael Jackson schien plötzlich die gesamte schwarze Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King bis Barack Obama angetreten. Und schwarze Prediger, Politiker, Musiker. Sie alle boten vor allem eines: echte Trauer. Und sie artikulierten sie auf verblüffend variable Weise. Nämlich jeder anders. Und doch jeder persönlich. Man konnte nicht anders, als ergriffen zu sein. Bestimmt haben noch niemals zuvor in der Geschichte so viele Menschen gleichzeitig geweint.

Vielleicht ging es auch nur so: Die enorme Stimmigkeit, die ganze Ästhetik der choreografierten Emotionen, die ganze wuchtige Oh-Lord-Semantik wäre sonst vielleicht ins Rutschen gekommen. Denn der christliche Gott wurde in fast jeder der zehn Reden bemüht: das ewige Leben, das Jenseits, das Sitzen zur Rechten Gottes, die Aufgabe, die der Höchste uns gestellt hat.

Als Jacko im Goldsarg wie ein Pharao zu dem Gospel „We are going to see the king“ hereingetragen wurde, konnte man die Sache noch als geschmacklos missverstehen. Doch bald wurde klar: Hier findet ein Gottesdienst der Black Community statt. In der Innenwelt sozusagen. Und man rieb sich die Augen: Nichts galt mehr, was in der Außenwelt, sprich den Medien, jahrzehntelang gegolten hatte. Der Kinderficker, der Pädophile, der Psychopath, der menschenscheue Einzelgänger, der haltlose Drogenkonsument, der hässliche Freak: verschwunden, kein Wort davon. Die Millionen Tonnen Unrat, die wie selbstverständlich von den Medien über Jackson ausgekübelt wurden: plötzlich weg, wie nie gewesen! Ein Reverend drückte es so aus: „Du warst nicht seltsam, Michael. Seltsam war das, was man an dich rangetragen hat.“ (Auf Deutsch: Nicht Katharina Blum ist seltsam, die Bild-Zeitung ist es.)

Auch wurde überraschenderweise gar nicht der Musiker geehrt, sondern der Mensch. Keiner sprach über die Songs, sondern alle über Jacksons überirdische Freundlichkeit, Höflichkeit, Zurückhaltung, Güte, Loyalität, Sensibilität, Menschenliebe, soziale Verantwortung, politisches Engagement und und und. Er besuchte Soldaten im Lazarett. Er kämpfte gegen den Hunger, gegen Gewalt, gegen Rassentrennung, für die Umwelt, für einen besseren Planeten, für die Kinder, für … halt! Da war es dann doch, das Unwort: Kinder. Und schon stehen schon wieder hundert davon auf der Bühne und singen „We are the world“. Es sieht nur diesmal ganz anders aus. So wie die elfjährige Tochter Paris Katherine, die schluchzt, ihr Daddy sei der Beste gewesen. So wie der einstimmige Freispruch in allen zehn Punkten damals im Kinderschänderprozess. So wie Brooke Shields, die mit erstickender Stimme Anekdoten aus ihrer lebenslangen Freundschaft mit Michael erzählt. 13 war sie, als sie sich kennenlernten.

Zweieinhalb Stunden lang konnten wir einen tiefen Blick in die Innenwelt dieses Stars werfen – was wir da sahen, hat uns gefallen. Zeige mir deine Freunde, und ich sage dir, wer du bist. Vielleicht ziehen nicht wenige der 1,35 Milliarden Zuschauer die einzig logische Lehre daraus: Traue nie wieder den Medien.

JOACHIM LOTTMANN

MARX 2.0Haben sie Fragen zur Heiligsprechung? kolumne@taz.de Morgen: Kirsten Reinhardt findet ihre IDOLE