: „Kein Zeichen für das Böse“
INTERVIEW BARBARA OERTEL
taz: Frau Drakulić, in Ihrem neuesten Buch „Keiner war dabei“ beschäftigen Sie sich mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Warum gerade dieses Thema?
Slavenka Drakulić: Ich habe mich bereits in zwei Büchern mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien auseinander gesetzt. Beide sind aus der Sicht der Opfer geschrieben. Dann habe ich mir die Frage gestellt: Wer sind die Täter, wer sind diejenigen, die für alles das verantwortlich sind, was geschehen ist? Ich glaube, dass dies eine normale Neugierde ist, die eigentlich jeder hat. Jeder fragt sich, wer sind diese Leute? Von Anfang an war mir klar, dass ich nicht einfach nur Porträts schreiben wollte. Und mein Fokus entwickelte sich dann wie von selbst. Es ist das, was Hannah Arendt die Banalität des Bösen genannt hat.
Sie haben mehrere Monate in Den Haag verbracht und an den Gerichtsverhandlungen teilgenommen. Was waren Ihre stärksten Eindrücke?
Den Haag, das ist eine ganz besondere Situation. Man sieht die Angeklagten aus nächster Nähe. Es gibt drei Gerichtssäle, einer ist kleiner als der andere, und alle sind durch Glaswände getrennt. Man fühlt sich wie in einem Zoo, wie in einem Aquarium. Und niemand weiß, ob das Glas das Publikum vor den Angeklagten schützen soll oder umgekehrt.
Hatten Sie bestimmte Vorstellungen von einem mutmaßlichen Kriegsverbrecher?
Das war der andere starke Eindruck. Dass man bestimmte Vorurteile hat, eine Art von Verteidigungsmechanismus. Für mich war es überraschend festzustellen, dass auch ich diese Vorurteile hatte. Als die Angeklagten hereingeführt wurden, habe ich nach Zeichen für das Böse gesucht. In der Art, wie sie aussehen, sich kleiden, sich bewegen oder einfach auf ihren Gesichtern, in ihren Augen. Aber da war nichts dergleichen.
Sie haben auch der Verhandlung gegen Slobodan Milošević beigewohnt. Wie hat er auf Sie gewirkt?
Als ich ihn zum ersten Mal im Gerichtssaal gesehen habe, hat mich das wirklich geschockt. Dann wurde ich richtig wütend auf mich. Warum nimmt mich das so mit, dachte ich, was ist daran Besonderes, ist er denn nicht einfach ein Krimineller? Dann kam ich zu dem Schluss: Wenn man wie ich in einem Land mit Personenkult aufgewachsen ist, sitzt die Idee fest im Kopf, dass diese Menschen über den normalen Menschen schweben, dass sie etwas anderes sind und nicht der Gerichtsbarkeit unterliegen. Plötzlich wurde mir klar, dass dieses System, das ich mein ganzes Leben lang bekämpft habe, immer noch ganz tief in mir drin sitzt.
Der Kriegsverbrecher – kein Monster, sondern ein ganz normaler Mensch wie du und ich. Keine angenehme Erkenntnis.
In der Tat ein sehr befremdlicher Gedanke. Er ist es deshalb, weil er bedeutet, dass du und ich auch in der Lage wären, solche Verbrechen anzuordnen oder selbst zu begehen. Doch gerade dieser Gedanke, dass jeder Mensch zu derartigen Grausamkeiten fähig ist, ist nicht etwas, was wir über uns selbst wissen wollen.
Wovon hängt es ab, ob wir Böses tun oder nicht?
Von verschiedenen Elementen, ich würde sagen, das ist ein bestimmtes Aufeinandertreffen von Charakter und jeweiliger Situation. Man hat einen bestimmten Charakter, der aber kein pathologischer ist – man ist eben, wie man ist. Und dann findet man sich in einer bestimmten Situation wieder, die nach bestimmten Entscheidungen verlangt. Die Schlussfolgerung, dass Kriegsverbrecher genauso normale Menschen sind wie wir, führt zu der Frage: Was hätte ich selbst in dieser Situation getan? Das ist einer der wesentlichen Punkte des Buches: sich selbst Fragen zu stellen. Meine persönliche Erfahrung beim Schreiben dieses Buches war auch noch eine andere: Du verstehst, dass du nicht weißt, wer du bist. Wer bin ich? Ich glaube, dass wir das so lange nicht wissen, bis wir mit solchen entscheidenden Situationen konfrontiert sind. Das könnte auch eine schwere Krankheit sein, zum Beispiel Krebs. Da musst man sich entscheiden: Will ich gegen diese Krankheit kämpfen oder aufgeben? Viele Leute glauben, sie wüssten, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten würden. Aber in Wahrheit wissen sie es nicht.
Braucht es immer gleich solche Ausnahmesituationen wie Krieg oder eine tödliche Krankheit, um zu erkennen, wer wir sind?
Nein, das können wir ständig erfahren. Denn jeden Tag treffen wir Entscheidungen, auch weniger wichtige und marginale. Diese sind es aber gerade, die uns auf den Weg in Richtung des Bösen oder in eine andere Richtung bringen. Jetzt wird sehr viel über Integration von Minderheiten diskutiert. So frage ich beispielsweise meine Studenten in den USA, ob sie ihre Nahrungsmittel in einem muslimischen Laden kaufen oder es vermeiden, dorthin zu gehen. Darüber sollen sie nachdenken. Doch das ist auch eine Frage an jeden von uns. In jeder Gesellschaft gibt es jemanden, der der andere ist. Jeder kann in einer bestimmten Gesellschaft der andere sein.
Sie haben sich für dieses Buch explizit für die Perspektive der Täter entschieden. Liegt darin nicht auch eine gewisse Gefahr?
Was mir sehr geholfen hat, ist der Umstand, dass ich Romanschriftstellerin bin. Als eine solche bin ich daran gewöhnt, in die Köpfe und Herzen anderer Menschen hineinzukriechen, mich mit ganz unterschiedlichen Charakteren zu identifizieren. Und diese Charaktere sind nie ganz erfunden, weil sie immer Elemente dessen enthalten, was manselbst ist und weiß. Dieser Prozess der Identifikation ist eine gute Methode, sich selbst an der Stelle dieser Menschen zu sehen, die Kriminelle, aber eben auch ganz normale Menschen sind. Im Falle eines Kriminellen ist diese Identifikation natürlich gefährlich. Die Gefahr ist, zu nah heranzugehen, seine Seite einzunehmen und zu rechtfertigen, was er getan hat. Wenn man die Personen als normale Menschen porträtiert, ist es wichtig zu zeigen, wie sie in eine solche Situation gekommen sind, die ihnen eine Entscheidung abverlangte. Man muss versuchen, diese Menschen zu verstehen, und ich denke, das kann man auch. Man kann über sie schreiben, ohne zu rechtfertigen, was sie getan haben.
Sie selbst als Person sind in diesem Buch überraschend präsent. So erzählen Sie von sich selbst, Ihrer Entwicklung, aber auch von anderen Mitgliedern Ihrer Familie. Warum?
Ja, ich habe hier meine ganze Familie mit einbezogen, weil ich glaube, in so einem Buch nicht das Recht zu haben, auf Distanz zu gehen und als omnipotente Schriftstellerin über diese Menschen nur zu richten. Sowohl meine eigene Vergangenheit als auch die meiner Familie gehört mit in diesen Kontext. Damit kann sich auch der Leser identifizieren. Auch für mich ist das sehr wichtig, weil das bei mir Fragen aufwirft. Über meine Vergangenheit, über meine Verantwortung, aber auch über die meines Vaters zum Beispiel.
Sie sagen, dass Sie Verantwortung für die Ereignisse übernehmen wollen. Die Mehrheit der Menschen in Ex-Jugoslawien sieht das im Moment noch nicht so. So kommt eine Zusammenarbeit mit Den Haag doch immer nur auf Druck des Westens zustande. Ist das nicht ein problematischer Weg?
Natürlich wäre es besser, wenn die Menschen wirklich davon überzeugt wären, dass diesen Leuten der Prozess gemacht werden muss, wenn sie Verantwortung übernehmen und sich auch mit den Verbrechen auseinander setzen würden. Doch das ist im Moment noch nicht möglich und wird es auch in den nächsten Jahren noch nicht sein. Als das Tribunal in Den Haag 1993 eingerichtet wurde, hatten die Länder in Ex-Jugoslawien ja noch gar nicht die juristischen Möglichkeiten. Außerdem waren die Politiker und die Menschen unwillig, sich damit zu beschäftigen, und das sind sie bis heute. Für die Kroaten sind Leute wie der wegen Kriegsverbrechen angeklagte General Ante Gotovina, wegen dessen Nichtauslieferung die EU jetzt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen verschoben hat, Helden – Helden und keine Kriminellen. Das hat mit der Propaganda zu tun. Doch hat es auch seit dem Ende der Kriege niemals den Versuch gegeben, wirklich die Wahrheit zu erfahren. Heute sind auch in meinem Land immer noch nicht die juristischen Bedingungen vorhanden, um die Prozesse durchzuführen. In vier von fünf Verfahren, die in Kroatien stattgefunden haben, wurden die Angeklagten freigesprochen. Warum? Weil das Justizsystem korrupt ist und es nicht genügend Zeugen gab, denn die Leute haben Angst auszusagen. Ohne die Wahrheit aber kann es keine Versöhnung und kein normales Leben geben. Die Wahrheit zu lernen ist ein langer Prozess. Und der kann nur von einem Ort aus in Gang gesetzt werden: Den Haag.
Wahrheitssuche als langer und quälender Lernprozess – aber sind wir wirklich imstande, aus der Geschichte zu lernen?
Wir sind sehr schlechte Schüler. Deshalb denke ich, dass eine Wiederholung von Völkermord unvermeidlich ist. Wenn wir doch versuchen zu lernen, müssen wir gegen die menschliche Natur, also uns selbst, kämpfen. In diesem Kampf um mehr Zivilisation – das heißt, sich anders zu verhalten – liegt ein Stück Hoffnung. Keine Hoffnung darauf, dass sich derartige Verbrechen nie mehr wiederholen, aber vielleicht in einem geringeren Ausmaß.