: Der ernsthafte Bohemien
TODESTAG Erich Mühsam war Dichter und Zeitschriftenherausgeber, Anarchist und Landkommunarde, ein Star auf Münchens Bühnen und ein engagierter Gegner der Nationalsozialisten. Sie ermordeten den in Lübeck Aufgewachsenen heute vor 75 Jahren
Erich Kurt Mühsam, geboren am 6. 4. 1878 in Berlin. Jugend und Apothekerlehre in Lübeck
■ Ab 1901 freier Schriftsteller, Kabarettist, Vortragskünstler und Herausgeber von Zeitschriften in Berlin. Freundschaft mit Gustav Landauer, der ihn in den Anarchismus einführt
■ 1904 bis 1908: „Wanderjahre“; Aufenthalte u. a. in Zürich, Ascona (Monte Verità), Wien, Paris; ab 1909 in München
■ 1910: Verhaftung wegen „Geheimbündlerei“, Anlass ist wahrscheinlich die Agitation des „Lumpenproletariats“; Freispruch
■ 1915 heiratet Mühsam die niederbayerische Bauerntochter Kreszentia („Zenzl“) Elfinger
■ 1919: Mitglied des Zentralrats der Münchner Räterepublik. Nach deren Niederschlagung verurteilt zu fünfzehn Jahren Zuchthaus; ■ 1924 amnestiert. Umzug nach Berlin. Gründung der Zeitschrift Fanal, bis 1929 Mitarbeiter der KPD-nahen Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe Deutschland
■ Anfang der 30er Jahre: Bruch mit der KPD, Übertritt zur anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter Union Deutschland (FAUD). Aktiver Protest gegen den Aufstieg der Nationalsozialisten
■ 1933 wird Mühsam verhaftet und am 9. 7. 1934 im KZ Oranienburg ermordet
VON MICHAEL QUASTHOFF
Erich Mühsam verkörpert den Idealtypus jener Künstlergeneration, die Anfang des 20. Jahrhunderts aufbrach, um gegen den Autoritätskult, die Bigotterie und Verlogenheit der wilhelminischen Gesellschaft zu rebellieren. Die Parole hatte der schwedische Dichter August Strindberg ausgegeben: „Verwildern / und eine neue Welt erschaffen.“ Mühsam hat in dieser Hinsicht wenig ausgelassen und es damit vom Kaffeehausliteraten zur moralischen Instanz der Weimarer Republik gebracht. In der Nacht vom 9. zum 10. Juli 1934 – heute vor 75 Jahren – wurde er im KZ Oranienburg ermordet.
Stets umwittert von einer filouhaften Unbehaustheit fand Mühsam seine geistige Heimat in der Boheme. Assoziationen an das pittoreske Kreativenbiotop der gleichnamigen Puccini-Oper sind allerdings Fehl am Platz: Nüchtern definierte Mühsam selbst das Milieu als „gesellschaftliche Absonderung künstlerischer Naturen, denen die Bindung an Konventionen und die Einfügung in allgemeine Normen der Moral und öffentlichen Ordnung nicht entspricht“.
Für ihn war der Boheme-Begriff mithin eine ernste Sache, befeuert und gedüngt von einem Gefühlsanarchismus, der ein bis heute einmaliges Kabinettstück darstellt: die Anarchisten Bakunin, Kropotkin und Landauer, verschmolzen mit dem Radikalindividualismus Stirners – und einer guten Portion Outlaw-Romantik.
Erste Hilfe beim Versuch, sich dem kleinbürgerlichen Patronat des jüdischen Apothekerhaushaltes zu entziehen, leisten Kleist, Goethe und Jean Paul, die der junge Mühsam heimlich aus dem Bücherschrank klaubt. Mit elf beginnt er Tierfabeln und Gedichte zu schreiben, mit 16 ist er Profi und poliert die Couplets eines lokalen Varieté-Komikers (Wochenlohn: drei Mark).
Seine nächste Veröffentlichung macht mehr Furore: Als der Gymnasiast Berichte über schulinterne Vorgänge im sozialdemokratischen Lübecker Volksboten lanciert, relegiert man ihn „wegen sozialistischer Umtriebe“ von der Schule. Nach dem Abitur, das er im mecklenburgischen Parchim ablegt, geht Mühsam nach Berlin, das gerade seine „imperial-byzanthinische Spätblüte“ (Walter Delabar) erlebt. Ein typisches Produkt dieser Zeit ist die Künstlerkolonie „Neue Gemeinschaft“: Man liest Nietzsche und Stirner, schwebt durch den Tag und hasst die spießige SPD. Die Kluft zwischen Künstler und Proletariat soll überwunden werden durch „Lebensgemeinschaften, die eine allbeglückende Kultur in sozialer, ethischer und ästhetischer Beziehung ermöglichen“. Hier erfährt Mühsam, so beglückt wie benebelt von der „gonghaft schallenden Prosa“ seine künstlerische Sozialisation.
Aber die Wirkung hält nicht lange an. Als ihm aufgeht, dass die Kommunarden abends vom „kosmischen ‚Welt-Ich‘ faseln“, während der Zirkel „der Auserwählten“ tagsüber in einen florierenden Pensionsbetrieb verwandelt wird, packt er die Koffer. Denn, so schreibt er: „Weihe in Permanenz schafft Narren, Zeloten und Spekulanten.“ Was er mitnimmt, ist das Programm einer naturalistischen, sozial engagierten Literatur und den Kontakt zu Autoren wie Max Reinhardt, Bruno Wille, Else Lasker-Schüler, Paul Scheerbart, Peter Hille und dem Pazifisten und anarchistischen Theoretiker Gustav Landauer, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verbindet.
Landauers programmatische Schrift „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ die den Siedlungsgedanken der Neuen Gemeinschaft aufnimmt, liest Mühsam „fünf-, sechsmal hintereinander“ und ist „überwältigt und mit Klarheit erfüllt“. So gerüstet reist er 1904 erstmals an den Lago Maggiore, wo eine lebensreformerische Kolonie den Monte Verità besetzt hält. Mühsam „spielt den Naturmensch“, stelzt „barfüßig herum“ und lebt nur von Salat, weil er glaubt, hier „sei der geeignete Ort, um eine kommunistische Siedlungsgenossenschaft in großem Maßstab zu versuchen“, schreibt er in der Broschüre „Ascona“.
Dann aber hat er ein Déjà-vu: Damen, die die geistigen Höhenflüge „im Kochtopf und Waschfass“ ersäuften, „ethische Wegelagerer mit ihren spiritistischen, theosophischen, okkultistischen und potenziert vegetarischen Sparren“ und pure Geschäftemacherei – diesmal ein Sanatorium für bessere Kreise. „Zuletzt wurde der Vegetarismus zu einer menschheitsbefreienden Idee aufgepustet, und als die Beteiligten aus dieser recht irrelevanten Weltanschauung heraus ihre sozialen Träume nicht verwirklichen konnten, versuchte man es mit der ganz unmöglichen Verquickung eines ethischen Prinzips mit einem kapitalistischen Spekulationsunternehmen. Wie in solchen Fällen immer, mußte die Ethik den kürzeren ziehen.“
Wem das bekannt vorkommt, der darf die prophetischen Gaben Mühsams rühmen und sich wundern über den „grenzenlosen Enthusiasmus“, der ihn jede noch so große Enttäuschung wegstecken lässt. Nach dem Schweizer Reinfall schreibt er den „Gesang der Vegetarier“ – Refrain: „Wir hassen das Fleisch, ja, wir hassen das Fleisch / und die Milch und Eier und lieben keusch“ –, dann bestellt er ein Kotelett und geht zurück nach München, um den mythischen Rebellen Kain zu reanimieren. Er gründet die Zeitschrift gleichen Namens und versucht mit der Aura des alttestamentarischen Outlaws das Lumpenproletariat zu missionieren. Es wird genauso ein Desaster wie sein Engagement in der Räterepublik, als er vergeblich versucht, die selbstzerstörerischen Lagerkämpfe der Revolutionäre zu beenden. Auch die projektierte Karriere als ernsthafter Lyriker bleibt auf halbem Wege stecken. Es nietzscht und trakelt eher epigonal, wenn dem „Pilger“, gern auch dem „einsamen Wanderer“, das „Grauen aus blutigen Seen“ entgegensteigt oder „ein alter kalter Leichnam (…) an einem Telegrafenmast / Nach seinen Schlenkerbeinen fasst“. Seine Agitationsgedichte hat Mühsam selbst „ gereimte Leitartikel“ genannt.
Aber er kann auch anders. Zum Beispiel schöne Knittelverse („Mit einem starken Schweden ringen / Ist nicht so leicht wie Reden schwingen“), maliziöse Abhandlungen („Zur Naturgeschichte des Wählers“) und funkelnde Couplets, ein „alkoholisches Trinklied gewidmet den Sozialdemokraten“. Oder erstklassige Balladen wie den „Kleinen Roman“: „Sie lernte Stenographin. / Er war Engros-Kommis. / Im Speisewagen traf ihn / ein Blick. Er liebte sie. / Auf einer Haltestelle / brach man die Reise ab, / wo selbst er im Hotelle / sie als sein Weib ausgab. / Nicht viel, das man sich fragte. / Doch küßten sie genug. / Und als der Morgen tagte, / ging schon der nächste Zug. / Nach einer kurzen Stunde fand ihre Fahrt den Schluß. Er nahm von ihrem Munde noch einen heißen Kuß. / Er sah sie schnupftuchwinkend / noch stehn zum letztenmal, / und in sein Auge blinkend/ sich eine Träne stahl. / Er soll sie heut noch lieben. / Sie war so drall und jung. / Ihr ist ein Kind geblieben / und die Erinnerung.“
Einlagen dieser Art machen ihn in Etablissements wie dem Münchner „Simplizissimus“ neben Ringelnatz, Wedekind und Ludwig Scharf zum Brettl-Star. Ausdruck der kollegialen Wertschätzung ist der Spott: „Was ist der Unterschied zwischen Mühsam und Scharf?“ – „Scharf dichtet mühsam und Mühsam dichtet scharf“. Dem ist nichts hinzuzufügen.