: Im Schnee von gestern
Heute ins Iglu kriechen – und morgen das Fünfsternehotel Victoria Jungfrau in Interlaken ausprobieren. Die letzten Abenteuer im Eis: Natur- und Selbsterleben im Berner Oberland
VON GERHARD FITZTHUM
Es gibt Reisen, bei denen man unversehens mit der Wahrheit konfrontiert wird. Der Blick aus dem Fenster verheißt nichts Gutes. Der Himmel ist mit einer grauen Wolkenmasse verstopft – wie ein riesiger Kloß, der den nahen Viertausendern im Halse steckt. Eiger, Mönch, Jungfrau? Auf dem Tagesprogramm steht heute: eine Iglu-Übernachtung in 2.000 Meter Höhe, direkt unter der Eigernordwand.
Oben Schneesturm. Dick verpackt fängt uns die Basecamp-Teamleiterin vor der Tür des Berggasthauses ab und gibt eine kurze Einführung. Die wichtigste Information: Die Iglus stehen nicht neben dem rettenden Gebäude, wie uns versprochen wurde, sondern von hier unsichtbar weit draußen. Zunächst sollen wir uns dort in den nächsten eineinhalb Stunden (!) mit dem Leben im Schnee vertraut machen, bevor wir zum Abendessen ins Gasthaus zurückkehren. Nur C. bleibt zurück, sie könne da jetzt nicht raus, faucht sie.
Das Basecamp besteht nicht aus imponierenden Schneebauten, sondern aus kleinen Schneehöhlen im Hang. „Niemand geht von hier alleine weg!“, droht Karin, die Chefteamerin. Bei diesem Schneefall seien die Spuren schnell verweht und man verliere die Orientierung. Wenn wir Probleme haben, sollen wir in ihr Iglu am Rande des kleinen Schneedorfs kommen. Wie wir das mitten in der Nacht finden sollen, ist uns im Moment egal. Wir wollen nur einen kurzen Blick in unser polares Schlafgemach werfen und zurück ins Warme. Es ist tatsächlich der angenehmste Ort, den wir seit Stunden betreten: absolut windstill, nach oben dicht, fast gemütlich. Leider fällt der Blick auf unsere Schlafstatt – sechs dünne Holzplanken, die direkt auf dem Eis liegen. Heidi, Karins Co-Pilotin, bringt uns dann zum Haus zurück. Weil es bereits dämmert, erkennen wir das Gebäude erst im letzten Moment. Spätestens jetzt ist klar, dass es in der Nacht kein Zurück gibt – und keine Toilette. C. ist mittlerweile verschwunden, sie hat die letzte Gondel ins Tal genommen. Als wir wenig später vor einem Topf Glühwein sitzen, ist die Gruppe um eine weitere Person geschrumpft. E. hat sich nämlich ein Zimmer organisiert, zusammen mit der Vizeteamerin, die auf Übernachtungen im Schnee „gerne verzichtet“. „Warum sollte man so etwas tun, in einem Iglu übernachten?“, frage ich Karin, die 28-jährige Angestellte der base camp outdoor consultants GmbH. „Es geht um das Naturerlebnis, das man in der heutigen Zivilisation nirgendwo mehr hat“, antwortet sie, ohne zu zögern. „Im modernsten Skigebiet des Berner Oberlandes?“ – „Das sieht man von dort ja nicht!“
Sehnsucht nach C. Nicht nach ihr persönlich, sondern nach ihrem vermeintlichen Abendprogramm. Sie hat uns eine SMS geschickt und ist wieder im Hotel: Sauna, Whirlpool, 30°-Sole-Becken mit freiem Blick aufs nächtliche Interlaken. Eine Flut verlockender Bilder wälzt sich durch den geplagten Kopf. U. hat sich mit dem Schicksal abgefunden, sagt er. Er gehe ohne Vorfreude, aber auch ohne Angst. J., die uns begleitende Mitarbeiterin von Grindelwald-Tourismus, versichert, völlig freiwillig hier zu sein. Ein Glas Wein später ergänzt sie schmollend: „Irgendwer muss ja hinhalten.“
E., die noch nach einem Alibi für ihre Flucht ins Zimmer sucht, gibt zu bedenken, dass wir vielleicht zu alt seien für solche Abenteuer. Aber drüben am Nebentisch sitzen noch viel Ältere. Ein Ehepaar im Vorruhestandsalter, das vor drei Wochen in der größten Schweizer Naturhöhle übernachtet hat, heute ins Iglu kriecht – und morgen das Fünfsternehotel Victoria Jungfrau in Interlaken ausprobiert. Alter und Wahnwitz schließen sich also keineswegs aus.
Der Blick schweift zum Nachbartisch, wo ausgelassene Menschen Karten spielen und viel gelacht wird. Ganz offenbar freuen sie sich auf die Nacht im Eisfach. Müssen sie natürlich auch, der Spaß kostet sie pro Nase immerhin 155 Franken! Um 21 Uhr schließt die Gaststube am Ende des Universums. Noch einen Williams – gegen die Kälte, und einen zweiten – um den Alkoholpegel zu erhöhen, ohne die Blase mit Flüssigkeit zu belasten.
Willenlos setzen wir die Stirnlampen auf und lassen uns abführen – hinaus in die „Ruhe der zauberhaften Abgeschiedenheit“, wie es im Prospekt formuliert war. Eine Karawane von Gestalten mit hängenden Köpfen zieht wenig später Spuren durch das weiße Nichts. Als wir in Reih’ und Glied in unseren Polarschlafsäcken liegen, kann von Kälte keine Rede sein, aber die enge Pelle beschert einem ein grässliches Zwangsjacken-Feeling. Zudem liegen Kopf und Oberkörper in einer flachen Eishöhle mit Sargformat. An Schlafen ist unter solchen Bedingungen überhaupt nicht zu denken. Dafür jagt jetzt ein Naturerlebnis das andere: natürliche Schnarch- und Hustgeräusche, die ganz normale, aus überfüllten Alpenvereinshütten bekannte Klaustrophobie. Gegen vier Uhr ist das Gehirn so geschwächt, dass es den Schlaf nicht länger hinauszögern kann. Das Letzte, was es vernimmt, ist das sonore Brummen der Pistenraupen, die das Skigebiet zu präparieren beginnen. Auch dort bereitet man jetzt ein Naturerlebnis vor – für die beneidenswerten Zeitgenossen, die bei Tageslicht kommen – und im Moment noch im weichen Bett schlummern.
basecamp outdoor consultants GmbH, Postfach 410, CH-3800 Interlaken, www.basecamp.ch; welcome@basecamp.ch, Tel. (00 41) 3 38 23 93 23; www.jungfrau.com