: Historische Schuld
betr.: „Mord ohne Sühne“, taz vom 15. 3. 05
Jürgen Gottschlich gelingt es meiner Meinung nach gut, die türkischen Empfindungen zu beschreiben. Allerdings finde ich die (offizielle) türkische Geschichtsschreibung alles andere als nachvollziehbar. Es gibt genug Beweise und Dokumente, die belegen, dass die Lösung „der armenischen Frage“ nicht erst als Reaktion auf die „armenische Aggression“ erfolgte, sondern schon vorher geplant worden war. Einige türkische Gouverneure, die sich weigerten, Deportationen oder Massaker zu veranlassen, wurden des Amtes enthoben, verhaftet oder unter Todesandrohungen dazu gezwungen. Ein paar Jahre später wurden diese Verbrechen in Prozessen teilweise geahndet. Am Ende gab es welche, die durch enteignetes armenisches Vermögen reich und mächtig geworden sind oder aufgrund ihrer erwiesenen „organisatorischen Fähigkeiten“ wichtige Ämter in der jungen türkischen Republik innehatten. Kommt uns das als Deutsche nicht irgendwie bekannt vor?
Ich denke, es fällt jedem Volk schwer, sich selbst anzuklagen. Und es ist sicherlich ein Reflex zum Selbstschutz, Vorwürfe anderer Nationen zurückzuweisen (insbesondere jener, die selbst „Dreck am Stecken“ haben). Und wenn man Jahrzehnte lang in der Schule gelernt hat, dass die Armenier an ihrem Schicksal im Grunde selbst schuld waren, dann kann die Negierung türkischer Schuld mitunter groteske Züge annehmen. Mir wurde mal von Türken versichert, dass historische Fotos von ermordeten Armeniern in Wirklichkeit von Armeniern inszeniert worden seien, um die Türkei zu verunglimpfen. Darüber kann man den Kopf schütteln – aber dann kommt einem die teilweise haarspalterische Kontroverse um die deutsche Wehrmacht-Ausstellung in den Sinn. Zugegeben, hier sind die Verneiner in der Minderheit. Aber dieser Selbstschutzreflex ist der gleiche. Und auch in anderen europäischen Ländern findet man diese Abwehrhaltung. Als Beispiel sei Frankreich genannt, das sich bis vor kurzem nicht an seine Vichy-Regierung erinnern lassen mochte.
Und deshalb finde ich Jürgen Gottschlichs Vorschlag so wichtig und richtig: Die Aufarbeitung historischer Schuld kann am besten in einem gegenseitigen Annäherungsprozess geschehen.
IFFET ATLIALP, Düsseldorf