: „Die Linke hat Europa noch nicht für sich entdeckt“, sagt Jens Wolfram
Die Kritik deutscher Attac-Vertreter an der EU-Verfassung baut teils auf Lügen, teils auf Unwissenheit auf
taz: Herr Wolfram, heute demonstriert eine Koalition der Globalisierungskritiker auch gegen die EU-Verfassung. Der Entwurf höhle das grundgesetzlich garantierte Sozialstaatsprinzip aus, sagen deutsche Attac-Vertreter. Stimmt das?
Jens Wolfram: Nein. Das Sozialstaatsprinzip gibt so viel nicht her. Wenn man es juristisch betrachtet, überschätzt dieser Vorwurf die Reichweite des Sozialstaatsprinzips. Auch ohne Europäische Verträge wäre der derzeitige Sozialabbau in Deutschland juristisch zulässig. Er ist aus linker Sicht Teil einer unsozialen Politik, aber verfassungswidrig ist er nicht.
Für viele Globalisierungskritiker symbolisiert die EU-Verfassung eine Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren zählt. Beispiel Dienstleistungsrichtlinie.
Den Widerstand gegen diese Richtlinie kann ich nur unterstützen. Sie basiert aber auf dem Vertrag von Nizza. Das Herkunftslandprinzip ist im Rahmen des Binnenmarktes die Regel. Mit der Verfassung würde es leichter möglich, aus sozialen Erwägungen davon abzuweichen. Außerdem würde die Daseinsvorsorge aufgewertet. Sie erhielte den gleichen Rang wie das Binnenmarktprinzip. Das ist neu. Damit ist der Zwang zur Privatisierung in bestimmten Bereichen wie Sozialfürsorge, Bildung, Gesundheit aufgehoben. Ob man davon Gebrauch macht, ist natürlich eine Frage des politischen Willens.
Attac-Vertreter sagen, die neue Verfassung sei militaristisch und mache die EU zu einer imperialen Weltmacht, die nur ihre Wirtschaftsinteressen schützen will.
Was die EU nach dieser Verfassung darf, bestimmt sich nicht nur nach den erweiterten Kompetenzen, wie dem Recht, Missionen militärischer Art durchzuführen. Es bestimmt sich auch nach den Zielstellungen. Gleich im ersten Artikel steht die Pflicht, den Frieden zu fördern. Und im Kapitel über die Prinzipien des auswärtigen Handelns wird die Stärkung des Völkerrechts betont, insbesondere die UN-Charta. In Artikel zwei der Charta steht das Gewaltverbot. Das heißt: Präventivkriege oder so genannte humanitäre Interventionen sind dann nicht nur völkerrechtswidrig sondern zusätzlich durch die Verfassung verboten. Das ist gegenüber dem Nizza-Vertrag ein Fortschritt.
In der Stuttgarter Attac-Erklärung heißt es: „Das im Grundgesetz vorgeschriebene Zustimmungsrecht des Parlaments für Militäreinsätze wird in der EU-Verfassung abgeschafft und zu einem Anhörungsrecht des EU-Parlaments degradiert.“
Das ist schlicht gelogen. Wenn der Bundeskanzler deutsche Truppen an einem Auslandseinsatz der Union beteiligen will, muss auch weiterhin der Bundestag zustimmen. Die Linken müssten sich darum kümmern, jetzt im Ratifikationsgesetz eine Regelung einzubauen, die diesen Parlamentsvorbehalt verfahrensrechtlich absichert. Stattdessen sagen sie pauschal Nein zur Verfassung – auch die PDS –, und damit sind alle Einflussmöglichkeiten blockiert.
Die Bürger wollen ein Europa, das außenpolitisch den USA ein eigenes Gewicht entgegensetzt. Haben die nationalen Parlamente, hat das Europaparlament da künftig mitzureden?
Das europäische Parlament hat im außenpolitischen Bereich nur ein Anhörungsrecht bekommen. Bei militärischen Einsätzen werden die Abgeordneten lediglich informiert. Da haben aber auch die Linken im Konvent nicht an einem Strang gezogen. Die Linken aus Schweden und Finnland sehen die Außenpolitik lieber in den Händen ihrer Regierungen als in den Händen des Europäischen Parlaments. Auch in Deutschland unterliegt die Außenpolitik nicht unmittelbar dem parlamentarischen Zugriff. Die einzige Ausnahme – und das ist unsere historische Besonderheit aus der Wiederbewaffnungsdebatte – ist der parlamentarische Vorbehalt von Militäreinsätzen. Andere EU-Länder kennen das nicht.
Der Kampf gegen den Terror muss in Europa als Rechtfertigung herhalten, Grundwerte einzuschränken. Ändert daran die neue Verfassung etwas?
Ja. Der Bereich Inneres und Justiz wird zu großen Teilen dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unterworfen – Parlament und Rat sind gleichberechtigt beteiligt. Die parlamentarische Kontrolle wächst. Die Linken sind nur leider auf der Europäischen Ebene noch nicht gut genug organisiert, um den Konservativen eigene Konzepte entgegenzustellen. Deshalb laufen viele wichtige Auseinandersetzungen an ihnen vorbei.
Hat die Linke Europa noch nicht als Plattform für sich entdeckt?
Nein. Doch Europa ist da. Wenn ich mir die Union wegdenke, dann bleibt die zwischenstaatliche Ebene übrig. Dann können die jeweiligen Mehrheitsparteien untereinander dieses Gebilde gestalten – ohne Berücksichtigung der Opposition. Die Gesellschaft hat sich nun mal über den nationalen Raum hinaus entwickelt. Diese materielle Basis erfordert, ganz klassisch nach Marx, einen neuen Überbau.
Statt also die Verfassung zu blockieren, sollten ihre Spielräume für die eigenen politischen Ziele genutzt werden?
Das ist genau, was die Linken in der Analyse falsch machen. Sie stellen immer nur fest, dass die Verfassung eine für sie unerwünschte Politik weiterhin ermöglicht. Statt auszuloten, welche Politik sie auf der Grundlage der Verfassung machen können, wenn sie eine Mehrheit zustande bekommen.
In Frankreich, spätestens aber in Großbritannien droht die Verfassung in Referenden zu scheitern. Was kann dagegen getan werden?
Wir müssen über den Inhalt der Verfassung aufklären.
Das tun wir hier gerade …
Ja, hoffentlich nützt es.
INTERVIEW: DANIELA WEINGÄRTNER