Harte Jungs in harten Zeiten

Bedeutet das Simonis-Debakel in Kiel das Ende von Rot-Grün in Berlin? Der Kanzler bemüht einen alten Billy-Ocean-Hit, um das Gegenteil zu beweisen

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Wenn etwas Großes zu Ende geht, und sei es das eigene Leben, dann neigt die menschliche Natur oft zu einem unerklärlichen Humor. Auf der „Titanic“ hat die Bordkapelle auch bis zum Schluss fröhliche Lieder gespielt.

Als der Kanzler am Freitagmorgen kurz nach acht Uhr den Sitzungsraum der SPD-Bundestagsfraktion betritt, hat er extrem gute Laune. Nur 16 Stunden zuvor war ihm von einem einsamen Genossen in Kiel sein großer Tag samt Regierungserklärung und Jobgipfel gründlich versaut worden, die Koalition in Schleswig-Holstein hatte eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass Rot-Grün nicht einmal mehr im eigenen Lager eine Mehrheit besitzt – aber was soll’s. Gerhard Schröder hat schließlich nicht nur gelernt, das Schicksal so zu nehmen, wie es gerade kommt, sondern es auch von Fall zu Fall zu wenden.

Hinter verschlossenen Türen demonstriert er seinen schockierten Sozialdemokraten, welche Einstellung dafür vonnöten ist. „When the going gets tough, the tough get going“, zitiert der Kanzler einen alten Billy-Ocean-Hit von 1986. Wenn die Zeiten hart werden, kommen die harten Jungs erst so richtig in Schwung. Aber weil in der SPD-Bundestagsfraktion der perfekte Gebrauch der englischen Sprache immer noch keine zwingende Voraussetzung für ein Abgeordnetenmandat ist, liefert der Kanzler eine deutsche Version seines Mottos hinterher, „auf sauerländisch“, wie er mit Blick auf Parteichef Franz Müntefering betont. „Nur die Harten kommen in den Garten“, sagt also Schröder, und es ist klar, wen er damit meint.

Aber die Hoffnung des Kanzlers ist ja, dass ein bisschen von dieser Hybris auch auf seine Partei abstrahlt. Die SPD habe keinen Grund, in dieser schwierigen Lage den Kopf hängen zu lassen, versucht er seinen Genossen Mut zu machen. „Das zeichnet unsere Partei aus. Wenn man meint, sie liegt am Boden, dann steht sie wieder auf.“ Das werde auch diesmal so sein, nachdem man Heide Simonis „ein Messer in den Rücken gerammt“ habe.

„Schwierige Lage“, so hat Schröder nüchtern das umschrieben, was ein Spitzen-Sozi – emotional aufgewühlt – nicht mehr beschönigen kann. „Unser Schiff sinkt“, sagt er ratlos. Genau gegen diese Angst vor dem Untergang, gegen dieses schleichende Gift, das sich im Körper jedes Sozialdemokraten breit macht, haben Kanzleramt und SPD-Spitze kein rechtes Rezept.

Die Ergebnisse des Job-Gipfels? Zu viele Einzelmaßnahmen ohne aufrüttelnde Botschaft. Die neu inszenierte Tatkraft Schröders? Kiel hat gerade erst bewiesen, dass es nicht immer auf den Kanzler, sondern manchmal sogar auf einen Hinterbänkler ankommt. Das bedeutete den Einbruch der realen in die inszenierte Politik. Die Wahlen in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai? Sie verstärken eher das Gefühl der großen Zeitenwende. Die letzte rot-grüne Koalition auf Landesebene stand auch in den gestern veröffentlichten Umfragen wieder auf verlorenem Posten: SPD (35 Prozent) und Grüne (10) gegen CDU (43) und FDP (7).

Nach Kiel ist ja nicht einmal eine richtige Schadensbegrenzung möglich. „Passiert ist passiert“, sagt ein Kanzler-Mann. „Das bleibt ein Debakel mit verheerender Wirkung.“ Müntefering kann an diesem Freitagmorgen nicht mehr tun, als auf eine rasche Entscheidung bei der Regierungsbildung in Schleswig-Holstein zu drängen. Es verbiete sich, über Neuwahlen zu spekulieren, sagt er. Die Parteien müssten mit den „neuen Gegebenheiten“ schnell fertig werden und für „stabile Mehrheiten“ sorgen. Auch wenn es der Partei- und Fraktionschef nicht ausspricht, seine Botschaft ist klar: Eine große Koalition in Kiel ist allemal besser als ein weiteres Desaster der rot-grünen Minderheitsregierung mit einem neuen Kandidaten oder eine verheerende Niederlage bei Neuwahlen ohne die populäre Spitzenfrau Heide Simonis. Das ist der ganze Spielraum, den Rot-Grün noch besitzt: eine Zweidrittelmehrheit der unionsregierten Länder im Bundesrat zu verhindern. Wird in Schleswig-Holstein eine große Koalition unter Führung der CDU gebildet, dann bliebe Rot-Grün die totale Blockade im Bundesrat erspart, selbst dann, wenn Nordrhein-Westfalen an eine schwarz-gelbe Regierung fiele.

Die Grünen können noch weniger tun: Im Prinzip gar nichts. Ihnen bleibt, in Berlin den Alltagskram einigermaßen sauber wegzuregieren und ansonsten der Sozialdemokratie dabei zuzusehen, wie sie – aus der Not geboren – vielleicht zunehmend Gefallen an Bündnissen mit der CDU findet. Der grüne Parteichef Reinhard Bütikofer steht am Freitag leicht verschnupft im Reichstag und soll die Frage beantworten, ob eine große Koalition in Kiel jetzt nicht unausweichlich sei. „Wenn es so ist, dann ist es so“, sagt er.