piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Zauber ist weg

ABSCHIED Mit Timothée Atouba hat der HSV einen Künstler ziehen lassen, einen großen Nonkonformisten des Fußballs, der dem Spiel etwas von seiner Magie zurückgab

Gute Zauberer wissen für einen Moment nicht, wo das Kaninchen ist. Atouba weiß nicht immer, wo der Ball ist. Entscheidend ist, dass es auch der Gegenspieler nicht weiß und Atouba sich schneller erinnert

VON ROGER REPPLINGER

Der Zauberer ist weg. Thimothée Atouba folgt Trainer Martin Jol, wechselt vom Hamburger SV zu Ajax Amsterdam. Jol steht auf Atouba.

In Hamburg gab es auch eine andere Fraktion. Die raufte sich die Haare, wenn Atouba im eigenen Strafraum dem Gegenspieler den Ball durch die Beine schob. Ihn austrickste – ein Mal, zwei Mal. Wenn er zu seinen Flankenläufen ansetzte und Außenstürmer Ivica Olić hinten übernehmen musste.

Atouba tanzt nicht nur nach Siegen vor den Fans, er tanzt auch seine Gegenspieler aus. Er tanzt Fußball. Er kann auch zaubern. Gute Zauberer wissen für einen Moment nicht, wo das Kaninchen ist. Atouba weiß nicht immer, wo der Ball ist. Entscheidend ist, dass es auch der Gegenspieler nicht weiß und Atouba sich schneller erinnert. Es gibt Momente, in denen die Zuschauer seinem Spiel gebannt folgen, und Atoubas Gegenspieler geht es ebenso. Mancher konnte sich der Faszination nur mit Gewalt entziehen: Der Zauber musste per Foul gebrochen werden.

Atoubas Spiel war für all die Zuschauer, für die Fußball mehr ist als grätschen, kämpfen und 1 : 0, ein Geschenk. Diejenigen, die Atouba mit Angst sahen, haben vergessen, weshalb sie ins Stadion gehen, weshalb sie selbst Fußball gespielt haben, weshalb sie mangels Talent aufgehört haben, weshalb sie dieses Spiel lieben.

Atoubas Spiel ist so, dass man stets ein wenig Sorge spürt. Das muss man aushalten, weil er etwas riskiert. Keine Liebe ohne Risiko. Thimothée Atouba gab dem Spiel des HSV das, was zu finden taktisch so schwierig geworden ist: Raum und Zeit. Seine Dribblings, bei denen er den Gegenspieler wie einen Brummkreisel über den Rasen drehte, gaben der Mannschaft Zeit. Und Raum, den er mit seinen Flanken öffnete. Mit Atouba bekam das Spiel des HSV Tempo, Höhe, Tiefe und Breite.

Als er mal nach einer Verletzung zurück ins Team wollte und zu viel riskierte, da lag er nach einem Ballverlust bäuchlings im Mittelfeld. Trainer Huub Stevens stand in der Coaching-Zone und tobte. Atouba machte sich so lang, dass er zwischen den Grashalmen kaum zu sehen war. Der Gegenangriff lief, Olić versuchte zu retten. Atouba rappelte sich auf und lief einen großen Bogen um Stevens herum und war so noch später hinten. So demonstriert man einem Trainer, dass Wutanfälle schaden.

Atouba zeigt, was am Fußball mehr ist als Geld, Logen, Ergebnisse und Fouls. Manche wollen an dieses Mehr nicht mehr erinnert werden, weil die Erinnerung schmerzt. Dabei bietet dieses Mehr die Basis für die Kritik am Fußball. Atoubas Spiel verweist auf das, was im Begriff Fußball enthalten ist, was die Realität aber häufig verweigert. Er gibt der reduzierten Realität des Fußballs etwas vom Ganzen des Spiels zurück. Wenn Atouba das Ganze in seinen Widersprüchen für einen Moment wahr macht, ist das Glück.

Atouba zeigt, was möglich ist, weil er so viele Möglichkeiten hat. Er schickte den Ball auf die andere Seite des Spielfelds, zu Rafael van der Vaart. Der kleine Niederländer war kein großer Kopfballspieler, kam aber meist dennoch an den Ball, weil der gegnerische Verteidiger mit Atoubas Bällen nichts anfangen konnte, außer sie van der Vaart auf den Fuß zu legen. Atouba konnte mit Piotr Trochowski Doppelpass spielen, er konnte Steilpässe auf den nimmermüden Olić spielen, er konnte sich durchs Mittelfeld dribbeln. Zurück zu spielen widerspricht Atoubas Spielauffassung.

Dass in Atoubas Spielweise eine politische Dimension steckt, wurde deutlich, als er wegen einer Schambeinentzündung kaum trainieren konnte und mangels Alternativen doch spielen musste. Er war jedes Mal ein wenig früher kaputt. Er schleppte sich über den Platz, es tat beim Zugucken weh. Als Trainer Thomas Doll den völlig ausgepumpten Mann im Dezember 2008 beim Champions League-Spiel gegen ZSKA Moskau vom Platz holte, brüllte es von den Business-Seats des Volksparks: „Nigger“, „Kanacke“, „Affe“.

Atouba zeigte den Rassisten den Finger. Die Bild schrieb: „Ein Skandal! Atouba beleidigt alle Fans – und darf weiter seine Millionen kassieren. Beim HSV verdient der Afrikaner 1,2 Mio Euro Jahres-Gage. Bis 2009“, und forderte seine Entlassung. Doch der HSV belegte den Kameruner mit einer Geldstrafe und zwei Spielen Sperre. Die Fans kamen mit Atouba-Schals und -T-Shirts zu den nächsten Spielen und riefen seinen Namen. Die rassistischen Schlipsträger, die sich zum Stadionbesuch einladen lassen, erhielten Stadionverbot. Die Mannschaft solidarisierte sich mit ihrem Verteidiger.

Atouba war in der Mannschaft beliebt. Obwohl er manchmal seinen Pass vergisst, was Nicht-EU-Bürgern Schwierigkeiten machen kann. Er kommt auch mal zu spät zum Bus. Das mag einem Vereinsvorstand, der Fußballspieler als Investitionen betrachtet, sauer aufstoßen. Dem missfiel auch, dass verschiedene Berater in Atoubas Namen verhandelten. Atoubas Vertrag wurde nicht verlängert.

Nun muss der HSV ohne ihn auskommen. Gut, dass wenigstens Pitroipa noch da ist.