: Kein Staat zu machen
AUS GOMA: DOMINIC JOHNSON (TEXT)UND WOLF BÖWIG (FOTOS)
Wolken hängen über Goma. Wenn es trocken ist und der schweflige Rauch vom nahen Vulkan nach unten drückt, lässt es sich schwer atmen auf den staubigen Straßen aus erkalteter Lava. Wenn es regnet, verwandeln sich die Wege in schwarzen Matsch. Goma, die Halbmillionenstadt im Osten der Demokratischen Republik Kongo, direkt an der Grenze zu Ruanda, liegt am Fuße des Nyiragongo. Vor drei Jahren zog eine Feuersbrunst aus einem Spalt des Vulkans mitten durch Goma, und noch heute ragen dort, wo die Lava alles zerstörte, Ruinen aus der Tiefe, obwohl das Straßennetz längst einige Meter höher neu entstanden ist.
Goma erfindet sich neu. Wenig internationale Hilfe ist in die einstige Hauptstadt von Kongos Rebellen geflossen. Aber kilometerweit erstrecken sich völlig neue Stadtviertel ins Hinterland: Blockhütten unter Bananenstauden, Villen mit Seeblick. Bald wird das gesamte Nordufer des Kivusees, an dem Goma liegt, auf seinen ganzen 30 Kilometer Länge parzelliert sein.
Gebaut wird auch auf der anderen Seite der Grenze, in Ruanda. Das kleine, beschauliche Gisenyi mit seinen lauschigen Stränden, die ruandische Zwillingsstadt zum großen Goma, wuchert die Berghänge hinauf. Aus dem Feldweg hinter dem Flughafen von Goma Richtung Ruanda ist ein lebhafter Boulevard geworden, der die Märkte beider Städte verbindet. Das Afrika der Großen Seen mag ein Dauerkrisengebiet sein – hier, zwischen Kongo und Ruanda, entsteht im Staub neuer Aufschwung.
Wenn sich hier nicht einige Leute mit verbissener Willenskraft und Mut zur Improvisation gegen den Zerfall jeglicher Ordnung gestemmt hätten, würde nichts mehr funktionieren. Die Provinz Nordkivu, deren Hauptstadt Goma ist, wurde in den 90er-Jahren zum Ausgangspunkt eines Krieges, der das ganze Land und schließlich ganz Zentralafrika ergriff und dessen Folgen 3,8 Millionen Menschenleben gekostet haben sollen. Rechtlosigkeit herrschte hier schon vorher, und auch heute, da der Kongokrieg offiziell erloschen ist, kennt Ostkongo keinen Frieden. Dass jetzt trotzdem hier die Leute eine Aufbauleistung schaffen, die man in friedlicheren Teilen des Kongo vergeblich sucht – das ist das Erbe jener harten Jahre, als jeder lernen musste, im Überlebenskampf zu bestehen, denn auf Beistand von außen hoffte man vergeblich.
Keiner dieser Menschen wird sich jemals wieder von einer fremden Macht etwas sagen lassen. Nicht vom nahen Nachbarn Ruanda, nicht von der fernen Hauptstadt Kinshasa. Aber die internationalen Konfliktlösungsexperten, für die Kongo einer von zahlreichen wieder aufzubauenden „failed states“ auf der Welt ist, sehen nur Kinshasa. Vorrang hat für sie gemäß dem Muster von Ländern wie Afghanistan, Irak oder Liberia der Aufbau eines Zentralstaates. Der soll dann das Land aufbauen.
Im Kongo bedeutet das, Massenmörder und Ausplünderer zu stärken. Kongos international vermittelter, von der weltgrößten UN-Blauhelmmission abgesicherter Friedensprozess belohnt Verbrecher mit Regierungsposten und Hilfsgeldern. Die Erfahrungen und Leistungen der Menschen in Regionen wie Kivu, wo der Staatszerfall seinen Ausgang nahm, zählen nicht.
Die gesamte Energie der internationalen Gemeinschaft im Kongo, klagt ein ausländischer Experte, geht dafür drauf, eine unfähige Regierung in Kinshasa am Leben zu halten. Für nützliche Dinge – Verbesserung der katastrophalen Lebensbedingungen, Aufbau von Infrastruktur, Demobilisierung der Bürgerkriegskämpfer, Vorbereitung freier Wahlen – haben die Ausländer keine Zeit und die Regierenden keine Lust. Kinshasa ist ein Raumschiff ohne Bodenkontakt, in Dauererwartung eines Putsches.
So ist Kongo ein Lehrstück für falsch angepackten Staatsaufbau. Ein Geschäftsmann in Goma bringt das Problem auf den Punkt: Wenn ich mich gründlich wasche, kippe ich mir ja auch nicht einfach eimerweise Wasser auf den Kopf, in der Hoffnung, dass unten etwas ankommt. Ich schrubbe mich überall gründlich ab.
Das ist nicht nur eine theoretische Diskussion. Kongos Realität besteht darin, dass der Frieden unten nicht ankommt. Im Gegenteil: Palastintrigen in Kinshasa bedeuten Blutvergießen im Osten. Dreimal erlebten die Kivu-Provinzen letztes Jahr neue Kriegsrunden. Ende 2004 schickte erst Ruanda kurzzeitig Soldaten nach Nordkivu, und dann flog Kinshasa Truppen ein, die hemmungslos plünderten. Das größte Entwicklungsprojekt Nordkivus, der Wiederaufbau der Straße ins Landesinnere durch die Deutsche Welthungerhilfe, wurde eingestellt. Lokale Milizen, die so genannten Mayi-Mayi, kämpfen gegen die Armee der Provinzregierung, die aus den einstigen Rebellenkämpfern der proruandischen RCD besteht (Kongolesische Sammlung für Demokratie). Stark sind auch die ruandischen Hutu-Milizen, geführt von Tätern des ruandischen Völkermordes von 1994. Auf der Lagekarte der UN-Mission in Goma hat die RCD-Armee in Nordkivu 18 Fähnchen, die ruandischen Hutu-Milizen 23, die Mayi-Mayi mit ihren Verbündeten 33. Frieden kann so nicht entstehen.
Immerhin hat Nordkivu eine Provinzregierung. Gouverneur Eugene Serufuli thront in der verlassenen Residenz des früheren Diktators Mobutu und wird bei Fahrten durch Goma von finsteren Soldaten mit Raketenwerfern begleitet. Sich selbst zahlt er ein fürstliches Gehalt, aber im öffentlichen Dienst verdienen die Leute gar nichts. Aber die ruandischsprachige Bevölkerungsgruppe, die Hälfte der Bevölkerung Nordkivus, fühlt sich von ihm geschützt. Sein neuer Militärchef, der junge und stahlharte General Tango Fort, gilt als Saubermann. Er bringt die rivalisierenden Truppen in der Provinz in gemischten Einheiten zusammen – erster Schritt zu einer Demobilisierung. In Goma sponsert er einen Fußballklub, und als neulich ein beliebter Spieler starb, legten zehntausende Trauernde die Stadt lahm – Zivilisten und Militärs bunt gemischt.
Nordkivus populistische Provinzdiktatur gehorcht den Erfordernissen eines Kriegszustandes, nicht denen eines Friedens. Sie ist eine Miniaturausgabe des Scheins vom Staat, den die Kongolesen von früher kennen. Für Spiele mag es reichen, für Brot nicht. Wer in Goma wirklich etwas bewegen will, hält sich vom Staat fern. Aber in der Kinshasa-treuen Nachbarprovinz Südkivu, zum Vergleich, gibt es nicht einmal eine wahrnehmbare Provinzverwaltung. Der Gouverneur, unter Korruptionsverdacht, ist kaum bekannt und fast nie da. Dutzendfach wuchern Steuereintreibungsstellen mit dubioser Legitimität. In Südkivu, sagt ein dortiger UN-Verantwortlicher, haben wir weder Demobilisierung noch Entwaffnung, sondern Remobilisierung und Wiederaufrüstung.
Besonders bedrohlich sind auch dort die ruandischen Hutu-Milizen, die neuerdings massiv aufgerüstet werden. In ihren Hochburgen, so im Distrikt Walungu, herrschen sie nach UN-Angaben über eine Viertelmillion Menschen, kassieren Steuern und vergewaltigen Frauen zu hunderten. Südkivu ist auf dem besten Weg, der nächste Kriegsherd des Kongo zu werden.
Die UN-Mission sieht das gelassen. Die indischen UN-Generäle in Goma, Kaschmir-geschult, haben einen langen Atem: Erst kommt die Verschmelzung der kongolesischen Bürgerkriegsarmeen, sagen sie, dann die Entfernung der ausländischen Kämpfer und erst danach die Herstellung von Sicherheit und der Beginn eines politischen Friedensprozesses. Das ist Lichtjahre vom offiziellen UN-Diskurs entfernt, wo der Erfolg immer gleich um die Ecke liegt und man nur noch schnell ein paar Soldaten schicken und den diplomatischen Druck erhöhen muss, damit alles gut wird.
Aber langfristiges Denken ist gerade nicht gefragt. Ende März läuft das gegenwärtige Mandat der UN-Mission im Kongo (Monuc) aus und muss neu beschlossen werden. Die Ausgangsposition ist ungünstig: Die Monuc steckt wegen Sexskandalen in der Krise, ihr Chef William Swing ist nur noch auf Abruf da, und im nordostkongolesischen Ituri starben am 25. Februar neun UN-Soldaten in einem Hinterhalt – die schwersten Verluste unter Blauhelmen weltweit seit Ruanda 1994. Die Monuc steht nun unter Druck. Sie sucht griffige Rezepte mit Sofortwirkung.
In Ituri ergreift die UN-Mission die Flucht nach vorn. Sie fliegt mit Kampfhubschraubern in die Berge, macht für Kollateralschäden unter Zivilisten den Gegner verantwortlich und verweigert hinterher die Auskunft – wie eine richtige Armee eben. Manche Diplomaten hoffen, dass diese neue harte Linie der UNO auch in Kivu Schule macht. Denn Kivu wird nie zum Frieden finden, wenn die ruandischen Hutu-Milizen mit ihren 8.000 bis 15.000 Kämpfern dort bleiben. Sie sind in Kongos Friedensprozess nicht eingebunden, terrorisieren die Kongolesen, sie sickern neuerdings in Grenzregionen Ruandas ein und bedrohen Leute, die bei Völkermordprozessen aussagen wollen. Wenn im Kongo robustes Eingreifen überfällig ist, dann gegen die Milizenführer, die zum Teil vom UN-Ruanda-Tribunal als Kriegsverbrecher gesucht werden und deren strafloses Agieren im Kongo die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft unterminiert.
So forsch die UNO allerdings mit Ituri umgeht, so gelassen sieht sie das Milizenproblem in Kivu. Die Monuc weigert sich, gegen die ruandischen Hutu-Milizen zu kämpfen. Bei UN-Verantwortlichen in Goma werden dafür politische Gründe genannt: Die Milizionäre könne man nicht einfach zur Kapitulation zwingen. Ihre Kommandanten seien wichtige Persönlichkeiten mit berechtigten Ansprüchen, ihre politische Bewegung FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas), deren Führung zum Teil in Deutschland lebt, müsse von Ruandas Regierung als Verhandlungspartner anerkannt werden. Aus Sicht Ruandas – nicht nur der Regierung, sondern auch der Völkermordüberlebenden – ist das skandalös. Die Sympathie von Teilen der Monuc gegenüber Nostalgikern des Genozids eröffnet ein neues, schwieriges Kapitel in den gespannten Beziehungen zwischen Ruanda und der UNO.
Ruanda will Krieg gegen die Milizen. Weil die UNO das nicht tut, soll die Afrikanische Union (AU) eine Eingreiftruppe schicken. Innerhalb von drei Monaten könnte diese Truppe stehen, mit UN-Mandat, sagt Ruandas Präsident Paul Kagame. Die AU ist dafür, die EU will es bezahlen. Andere ruandische Regierungsmitglieder halten ein UN-Mandat für überflüssig: es genüge, wenn Kongo die Truppe einlade.
Das ruandische Modell für die afrikanische Eingreiftruppe sieht so aus wie das, was die Monuc gerade in Ituri macht: Den Milizenführern ein Ultimatum setzen, damit sie ihre Kämpfer gehen lassen; danach werden sie als Feinde behandelt. Dabei geht es nicht so sehr um militärische Schlagkraft: Demobilisierte Exmilizionäre, die jetzt in Ruanda leben, sollen dabei helfen, Freunde und Verwandte im kongolesischen Busch aufzuspüren und zur Aufgabe zu bewegen. Ruanda und auch die UNO gehen davon aus, dass die meisten ruandischen Hutu-Kämpfer im Kongo unfreiwillig da sind, als Geiseln ihrer Kommandeure. Wenn diese kaltgestellt wären, würden die Milizen zerfallen.
Es spricht einiges dafür, dass dies die letzte Gelegenheit bietet, im Ostkongo Stabilität zu befördern, bevor die Konflikte der Region erneut auf breiter Front aufflammen. Ansonsten droht nicht nur der UNO ein immenses Debakel. Ähnlich wie beim US-Rückzug aus Somalia 1993 wäre das ganze Konzept, zerfallende Staaten mit ausländischer Intervention zu stabilisieren, über Jahre hinaus diskreditiert.