alt unter tanzenden kindern von LEONIE NITSCHE :
Mann, wie hatte ich mich gefreut. Mann, wie war ich aufgeregt! Mann, wie ist das nun nicht mehr so.
Ich stehe im Publikum der Live-Chartshow TRL bei MTV. Ja richtig, ich stehe, hier gibt es keine Stühle für die Zuschauer, denn das passt nicht ins dynamische Bild der Sendung. Die Luft flimmert vor Anspannung und Aufregung. Ich schaue mich um: Lauter kleine Kinder hüpfen voller Vorfreude herum, mit roten Bäckchen und strahlend bunt gemalten Augen. Mein Strahlen hat mich irgendwann in den letzten Minuten still und leise verlassen: Mit Anfang zwanzig habe ich mich noch nie so entsetzlich alt gefühlt.
Mein Unwohlsein nimmt noch zu, als der Aufnahmeleiter vor uns hin und her springt und, als Animateur verkleidet, schreit: „Wegen weeeem seid ihr hiiieeeer?“ Die Kinder kreischen vor Freude: „Good Charlootttte!“ Ich verkrieche mich in die hinterste und dunkelste Ecke der Bühne – niemand soll mich sehen, niemand darf mich hier inmitten der Horde kleiner Teenies entdecken. Die Schmach wäre unerträglich.
Ich höre den fordernden Ton des Animateurs: Wir sollen nun: „Abtanzen!“ Abtanzen! Das neue Lied der Teenie-Rockband Good Charlotte wird laut eingespielt, und die Mini-Hardrocker um mich herum rocken und tanzen tatsächlich ab. Da ich nicht schon während der Probe völlig gelangweilt wirken möchte, nicke ich ein wenig mit dem Kopf im Takt, ganz sachte.
Um das Publikum während der Sendung noch mehr in Bewegung zu bringen, startet die Redaktion jetzt einen Bestechungsversuch: Freitickets für das Konzert der Band am Abend soll es geben, und zwar für das Kind, das „am besten abgeht“.
Die Show beginnt, der Arm des Animateurs wirbelt in der Luft herum, die Teenies kreischen und schreien und johlen um die Wette, und ich … – ich klatsche brav, wie es mir zuvor eingebläut wurde. Die US-Stars, frisch aus den amerikanischen Suburbs eingeflogen, betreten mit schwarz gemalten Hardrockeraugen das Studio. Die Kinder kommen aus dem Glucksen und Gurgeln gar nicht mehr heraus.
Es ist so weit, die Freitickets werden an ein quietschendes Mädchen vergeben, das sich schon die ganze Zeit die Seele aus dem Hals brüllt. Nach einer kurzen Umarmung mit dem Sänger taumelt das Mädchen hyperventilierend und glücklich zu ihren Freundinnen zurück. Nun wird das Publikum zur Showbühne getrieben. Ich versuche noch immer mich zu verstecken, doch der Kameramann will mich einfach nicht hinter seiner Kamera haben.
Drei oder vier Mal nacheinander wird derselbe Song gespielt, die Hardrockkinder legen jedes Mal wieder los und tanzen und tanzen und tanzen, während die leicht genervten Bandmitglieder das zum Besten geben, was die deutschen Sprache ihnen zur Verfügung stellt: „Scheise children!“, schleudern sie dem aufgeregten Publikum entgegen, das die Beleidigung tapfer ignoriert und weiter abtanzt.
Die Show ist vorbei – das beschließen jedenfalls meine Freunde und ich, die selbst ernannte „Altersheimfraktion“, und wir verlassen still und leise das Studio. Ich hoffe noch immer inständig, dass mich niemand gesehen hat.