Forum für subversive Strategien

Die documenta wird 50. In ihrem Jubiläumsjahr versöhnt sie sich endlich mit den Künstlern, die sie einst ausschloss. Denn: Als Gegenoffensive zur 4. documenta startete 1968 das Kunstheft „Interfunktionen“, es ist nun bis zum 3. April Anlass für eine umfassende Schau im Kasseler Fridericianum

VON HORTENSE PISANO

Allein das Cover zum Katalog spricht Bände: Rissig, ausgefranst sind die Hände des Künstlers, Dreck steckt unter den langen Nägeln. Daumen und Zeigefinger sind fest aufeinander gepresst, als wollte jemand eine unsichtbare Essenz festhalten – eine Kunstessenz? So auf den Körper reduziert wie in Dennis Oppenheims Filmstill „Aspen“ von 1970 kommt die Kunst 35 Jahre später selten daher. Im Vergleich zur Medienkunst heute mit ihrem Fokus auf politisch brisante Themen mag einem das Ausloten psychischer wie physischer Zustände allzu existenzialistisch, womöglich banal vorkommen. Das Überschreiten geltender Grenzen, sei es am eigenen Körper oder Objekt, brachte der 60er-Jahre-Kunst andererseits den Status des Radical Chic ein, der mehr denn je wieder en vogue ist.

Zeitlich parallel zur Berliner „RAF“-Schau eröffnete in Kassel eine Ausstellung, die mit 43 Pionieren von Land- bis Body-Art den umstürzlerischen Zeitgeist von einst aufspürt. Es sind durchweg bekannte Namen, von Marcel Broodthaers, Bruce Nauman bis Valie Export, die Gastkuratorin Gloria Moure im Fridericianum zeigt. Was im 50. Jubiläumsjahr der documenta wie eine historische Rückschau anmutet, sah 1968 freilich anders aus. Bei der IV. von Arnold Bode in Folge geleiteten documenta blieben interdisziplinäre Projekte wie Happenings außen vor. Und Vostells Initiative, ein „Multimedia“-Festival zu organisieren, lehnte der documenta-Rat strikt ab. Wie Friedrich W. Heubach, Herausgeber der darauf gegründeten Zeitschrift Interfunktionen, im Katalog von „behind the facts“ schreibt, wurde „immer häufiger gegen die politischen wie kulturpolitischen Verhältnisse zu Felde gezogen“. Eine spektakuläre Störaktion traf auch die Pressekonferenz der documenta IV. Maler Jörg Immendorff stieg auf den Tisch, verteilte Zettel mit der Aufschrift „Ich mache die documenta frei, Immendorff“ und hielt einen bemalten Eisbären aus Sperrholz in die Menge. Die ersten Interfunktionen-Hefte dokumentierten diese Protestaktion ebenso wie Beuys Ausschluss aus der Düsseldorfer Kunstakademie und Immendorffs Lidl-Aktivitäten. Nach der zweiten Ausgabe erweiterte die Zeitung ihr Programm. Von da waren nicht nur Aktionen der Fluxuskünstler Beuys und Vostell Thema. Konzeptkünstler aus Amerika und Deutschland nutzen das in Köln produzierte Heft als Galerie-unabhängigen Publikationsraum, um theoretische Essays, Zeitschriftenarbeiten oder prozessuale Projekte vorzustellen. Nach 12 Ausgaben wurde das Heft 1975 eingestellt. Drei Jahre nachdem der erst kürzlich verstorbene Ausstellungsmacher Harald Szeemann mit der V. documenta das Eis der Kunstfront zum Schmelzen brachte und interdisziplinären Konzepten die Tore öffnete.

Den Touch des Enfant terrible haben die Künstler von „behind the facts“ abgestreift. Längst agieren sie innerhalb des etablierten Betriebssystems Kunst. Doch früheste Konzeptkunstarbeiten wird man in der Dichte in keinem Museum finden. Vermutlich weil einige Arbeiten nie fürs Museum konzipiert waren. Das ist auch die Crux der Schau. Wie die Beiträge einer Zeitschrift präsentieren? Moure entschied sich gegen eine historische Dokumentation der Interfunktionen-Hefte. „Ich wollte die Frische, insbesondere die Aktualität der 60er-, 70er-Jahre-Konzepte betonen“, so die Kuratorin. In der Tat erlebt man in der hundert Werke umfassenden Schau einige Déjà-vus. William Wegmans Porträtserie „Lynn-Terry“ aus dem Jahr 1971 geht zweifellos Thomas Ruffs sachlichen Porträts voraus. Bereits auf Wegmans kleinformatigen Fotografien blicken die Protagonisten, der automatisierten Passbildästhetik nicht unähnlich, ausdruckslos in die Kamera.

Dass Künstler auf Bildideen zurückgreifen, ist im Zeitalter digitaler Wiederverarbeitung nicht ungewöhnlich. Weitaus mehr beeindruckt die radikale Einfachheit der damals verwendeten Medien und Mittel: Nadel, Gabel, Löffel, Wasser, Streichhölzer genügten Filmemacher Terry Fox, um 34 physikalische Experimente durchzuführen. Das Ergebnis der kleinen Tricks ist stets absehbar. Fox’ „Childrentapes“ (1971) sind nur ein Beispiel einer ganzen Reihe von Filmen, die mit der Erwartung des Betrachters spielen. In „A Film About a Women Who …“ spitzt Yvonne Rainer die gewohnte Blickkonstellation zu, indem sie den Betrachter zum Voyeur von Liebesszenarios macht. Langsam entkleiden ein Mann und eine Frau eine jüngere Frau. Ohne Erzählfaden, stellenweise ohne Ton, dafür mit eingeblendeten Texten und Stimmen aus dem Off läuft der Film 105 Minuten. Rainer unterwandert kategorisch die Struktur des Erzählkinos. Die einstige Tänzerin am Judson Dance Theater integrierte Elemente aus dem Theaterbereich in den Film.

Der fließende Übergang zwischen den Gattungen ist signifikant für die interdisziplinären Werke und für das Ausstellungskonzept. Kuratorin Moure lässt die einzelnen Strategien und Medien wie ein loses Netzwerk miteinander kommunizieren. An Oppenheims Videoarbeit mit Land-Art-Elementen „Mind-Twist-Wandering“ schließen im Erdgeschoss mehrere Black Boxes mit Filmbeiträgen, darunter Joseph Beuys ironische Aktion „Auskehren“ während der Berliner Mai-Demonstrationen 1972. Bei Dan Grahams Schlüsselwerk „Homes for America“, als Diaserie im Treppenhaus projiziert, wäre der direkte Bezug zu dessen Zeitschriftenarbeit sinnvoll gewesen. Graham hatte seine Recherche über amerikanische Reihenhaussiedlungen zunächst als Wegwerfprodukt für die Printmedien konzipiert. Hätte sich Moure auf die Interfunktionen-Beiträge beschränkt, anstatt sie lediglich in einem Archiv zu präsentieren, wäre Robert Smithsons sphärisches Filmdokument über seine „Spiral Jetty“ nicht zu sehen gewesen. Dass hier keine glatt designten Oberflächen abgetastet werden, das Medium stets auch die Botschaft ist, hat die Arbeiten der Kasseler Schau vor einem schnellen Verfallsdatum bewahrt. Bleibt am Ende die Frage nach dem Erbe von Interfunktionen. Welche Foren informieren heute über subversive Strategien? Vielleicht gibt die 12. documenta eine Antwort: Bis zur nächsten Ausstellung 2007 wird eine „Zeitschrift der Zeitschriften“ als internationales Diskussionsforum dienen.

Bis 3. April 2005,www.fridericianum-kassel.de